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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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siezum Glück nicht von der Geburt an blind sind das Erleben fast uneingeschränkter Reziprozität in der Kommunikation und in den sozialen Beziehungen. Viele Betroffene erlebten es gelegent­lich als Belastung oder zumindest als störend, daß sie einerseits zu ihrem sehenden Gesprächspartner keinen Blickkontakt mehr aufnehmen kön­nen und daß der sehende Gesprächs­partner andererseits Nuancen in der Stimme und Sprechweise weniger dif­ferenziert wahrnehmen könne als man selbst; nur Gespräche unter Blinden seien in dieser Hinsicht ausgewogen. Anderen Befragten war es sehr wich­tig, anderen Blinden als Quelle so­zialer Unterstützung zur Verfügung stehen zu können. Es wurde versucht, die Multiplexität mit einigen Fragen des halbstandardisierten Interviews zu erfassen. Die diesbezüg­lichen Antworten lassen vermuten, daß in den meisten Fällen viele Unterstüt­zungsfunktionen auf wenige Bezugs­personen entfallen. So galt beispielswei­se der Partner nicht nur als die wichtig­ste Quelle emotionaler Unterstützung, sondern leistete gleichzeitig zahlreiche Hilfen i.S. der instrumentellen Unter­stützung. Es ist in diesem Zusammen­hang zu bedenken, daß Netzwerke die­ser Art eine trügerische Sicherheit ver­mitteln!(v. Kardorff 1991) Diese deskriptiven Betrachtungen kön­nen durch Ergebnisse von Extremgrup­penvergleichen ergänzt werden, auf de­ren Darstellung hier verzichtet wird (Georgieff 1992). Als gruppenbildende Variablen fungierten zum einen die soziodemografischen Variablen, zum anderen jene Aspekte sozialer Bezie­hungen, die mit dem F-SOZU-A er­faßbar waren. Vergleicht man die durch die befragten Späterblindeten vorgenommenen Ein­schätzungen der mit Hilfe des Fragebo­gens erfaßbaren Aspekte sozialer Be­ziehungen mit den von Sommer& Fyd­rich(1988) berechneten Kennwerten (Normwerte im engeren Sinne sind nicht vorhanden), die an 2 Stichproben aus der Normalbevölkerung gewonnen wur­den, zeigt sich, daß an der vorliegenden

Katrin Georgieff und Gisela Friedrich+ Soziale Beziehungen Späterblindeter

Untersuchung Späterblindete teilnah­men, die sich sowohl vor dem Eintritt der Sehschädigung als auch innerhalb der gegenwärtigen Lebenssituation im Durchschnitt in gleichem Maße sozial integriert fühlten, ebensoviel emotionale Unterstützung, praktische Unterstützung und Reziprozität in ihren sozialen Be­ziehungen erlebten und besonders bei der Einschätzung der Gegenwart be­achtlich weniger soziale Belastung wahr­nahmen als die Befragten der Normal­bevölkerung.

Bei der Betrachtung aller Ergebnisse, besonders aber jener Resultate, die durch den Einsatz des modifizierten Fragebo­gens gewonnen wurden, sind folgende Aspekte unbedingt zu beachten:

Durch eine rein quantitative Vorge­hensweise können qualitative, personale und inhaltliche Veränderungen in den sozialen Beziehungen der Befragten nur unzureichend abgebildet werden. Es ist daher auch eine Auswertung auf Item­ebene unter Berücksichtigung der durch die Befragten jeweils genannten Perso­nen bzw. Personengruppen notwendig! Beispielsweise berichteten viele Später­blindete im Zusammenhang mit Fragen nach der emotionalen Unterstützung, daß sie sich heute zwar von weniger Perso­nen, von diesen aber wesentlich intensi­ver emotional unterstützt fühlen. Die Be­ziehungen zu anderen Personen seien heute generell weniger oberflächlich. Die meisten Untersuchungsteilnehmer stimmten dem Item 43(Es gibt eine Gemeinschaft von Menschen(Freundes­kreis, Clique), zu der ich mich zugehö­rig fühle; Skalasoziale Integration) sowohl für die Zeit vor der Erblindung als auch für die gegenwärtige Lebens­situation voll zu. Aber nur bei 2 Perso­nen war mit 2 formal gleichenFünfen wirklich die gleicheGemeinschaft von Menschen gemeint. Bei vielen wech­selte der Freundeskreis, wenn auch nicht vollständig, so doch partiell, im Zusam­menhang mit der eingetretenen Erblin­dung: Fühlte man sich früher zu den Arbeitskollegen, zum Tennisklub oder zur Fußballmannschaft besonders zuge­hörig, wurden heute häufig ebenfalls sehgeschädigte Menschen im Zusam­menhang mit der Frage nach einem

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 3, 1993

Freundeskreis angegeben. Formale Dif­ferenzen in den Graden der Zustimmung zu bestimmten Aussagen der Skala praktische Unterstützung wurden häu­fig weniger mit personalen Veränderun­gen begründet, sondern eher damit, daß man auf derartige Hilfen früher weniger angewiesen war und sie deshalb auch nicht erbat(zum Beispiel Item 25:Ich kann Freunde/Angehörige bitten, mir bei Amtsangelegenheiten(Behörden) zu helfen.)

Manche Aspekte sozialer Beziehun­gen wurden nur durch sehr wenige Items und daher relativ undifferenziert erfaßt (beispielsweise bestand die Rezipro­zitätsskala des F-SOZU-A nur aus 4 Aus­sagen)!

Alle Untersuchungsresultate wurden an einer sehr kleinen und inhomogenen Stichprobe gewonnen und dürfen daher nur mit äußerster Vorsicht interpretiert werden!

Es mag manchen Leser erstaunen, daß die befragten Späterblindeten heute si­gnifikant mehr emotionale Unterstützung und signifikant weniger soziale Bela­stung erleben als früher, daß die soziale Integration nicht signifikant geringer geworden ist, daß sich auch beim Ver­gleich mit den von den Fragebogen­autoren angegebenen Kennwerten, die an 2 Stichproben der Normalbevöl­kerung gewonnen wurden, kaum nen­nenswerte Differenzen ausmachen lie­Ben(außer der Tatsache, daß sich die befragten. Späterblindeten beträchtlich weniger sozial belastet fühlten als die Personen der Normalbevölkerung!). Wenn anhand dieser Untersuchungs­ergebnisse zwar gezeigt werden konnte, daß sich die sozialen Beziehungen spät­erblindeter Menschen nicht verschlech­tern müssen und sich z.T. sogar verbes­sern können, muß doch die Vorge­hensweise bei der Stichprobengewin­nung im Zusammenhang mit der Inter­pretation der Untersuchungsresultate ei­ner kritischen Betrachtung unterzogen werden: In einer auflagenstarken, bun­desweit erscheinenden Zeitschrift für Blinde wurde ein Aufruf veröffentlicht, in dem die späterblindeten Leser gebe­ten wurden, sich für die Untersuchung zur Verfügung zu stellen. Außerdem

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