Wolfram Kinze und Harald Barchmann*
Inwieweit sich diese phänomenologische Vielfalt auf gemeinsame neurophysiologische und neuropsychologische Grundmuster zurückführen läßt und mit welcher diagnostischen Methodik sie sich am eindeutigsten fassen läßt, ist weiterhin Gegenstand der Diskussion(zusammenfassende Darstellungen s. Langhorst 1990; Kinze& Barchmann 1990; Barchmann, Kinze& Roth 1991).
In der Behandlung sollten übende Verfahren die Grundlage bilden, die dem Kind einen angemessenen Arbeitsstil vermitteln. Individuell angepaßte Pharmakotherapie kann diese„kindzentrierten Maßnahmen“ ergänzen. Wichtig ist die geeignete Einbeziehung der Eltern und Lehrer in das Therapieprogramm. Welche Wertigkeit den einzelnen Komponenten eines solchen Therapieprogrammes zukommt, ist weiterhin umstritten. In teilweise polemischer Einseitigkeit werden pharmakotherapeutische Möglichkeiten grundsätzlich abgelehnt und allein pädagogisch-psychologischen Maßnahmen Wirksamkeit zugestanden(Voß 1990) bzw. umgekehrt psychotherapeutisch-pädagogischen Ansätzen die Verkennung pathophysiologischer Voraussetzungen unterstellt und in der Stimulantientherapie das einzig wirksame Verfahren gesehen(Eichlseder 1991).
Die eigenen langjährigen klinischen Erfahrungen sprechen dafür, sich in einem integrativen Therapieansatz jeweils den Bedingungen des Einzelfalles anzupassen, dabei den Aufwand— seitens des Kindes und seiner Bezugspersonen sowie seitens der Therapeuten— zum möglichen Nutzen kritisch in Beziehung zu setzen und die angesprochenen Therapie(teil)ziele nicht mit illusionären Erwartungen zu überfrachten.
Als Kernstück der Therapie, das sich in seinen Grundprinzipien auch Eltern und Lehrern vermitteln läßt, hat sich das Konzentrations-Trainings-Programm für Kinder von 6 bis 10 Jahren(Barchmann u.a. 1986) bewährt. Es beruht auf den verhaltenstherapeutischen Grundüberlegungen von Kuhlen(1972), die Reduktion inadäquaten Verhaltens mit dem Vermitteln adäquaten Verhaltens zu kombinieren. Für die Behandlung kon
zentrationsgestörter Kinder bedeutet dies, ihnen mittels konkreter Aufgaben einerseits zu verdeutlichen, daß oberflächliches und flüchtiges Arbeiten zu fehlerhaften Lösungen führt, sie aber andererseits erfahren zu lassen, daß richtige Lösungswege innerhalb ihrer Möglichkeiten liegen und damit eigenes Bemühen zum Erfolg führen kann. Ein kritischer, selbstreflektierender Bezug der Kinder zur eigenen Arbeitsweise im Sinne eines echten Problembewußtseins ist in dieser Altersgruppe kaum erreichbar. Es ist jedoch möglich, den Kindern an konkreten Beispielen die Ursachen ihrer Fehler und Lösungsschwierigkeiten zu zeigen und ihnen bei der Selbstkorrektur zu helfen.
Günstig ist hierbei auch die Einbeziehung von Selbstinstruktionstechniken (Meichenbaum 1979). Gelingt es, die Kinder zu innerem Sprechen im Sinne verbaler Selbstinstruktion anzuregen, etwa als„Geheimtip‘“ für erfolgreicheres Arbeiten, verbessern sie ihre Sorgfaltsleistungen deutlich.
Das Programm ist für Schulkinder der 1. und 2. bzw. der 3. und 4. Klasse in zwei unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen zusammengestellt. Es besteht aus Aufgabenserien für insgesamt 20 Übungsstunden für Kleingruppen von 4 bis 6 Kindern. Das Programm stellt Anforderungen an unterschiedliche Sinnesgebiete und enthält grundsätzlich nur Aufgaben, denen die Kinder intellektuell ohne größere Probleme gewachsen sind, deren Lösungen jedoch Aufmerksamkeit und aktives Bemühen erfordern. Zum Repertoire gehören Suchbilder, Durchstreich- und Ergänzungsübungen auf speziellen Arbeitsblättern, Perlen fädeln, Bildvergleiche, Zuordnungs- und Merkübungen, Puzzle-Spiele und Kopfrechenaufgaben. Material und Durchführung einschließlich Zeitvorgaben und Ergebnisbewertung sind im jeweiligen Tagesprogramm festgelegt. Bei jeder Aufgabe werden den Kindern Hinweise zur Strategie des Lösungsweges gegeben und Erfahrungen mit ähnlichen Aufgabenstellungen in Erinnerung gerufen. Die Kinder können verschiedene Lösungsmöglichkeiten diskutieren. Jede Aufgabe wird nach ihrer Lösung sofort
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 4, 1993
Kinderpsychiatrische Erfahrungen mit der Behandlung von Störungen der Konzentrationsfähigkeit
mit ihnen ausgewertet. Richtige Lösungen werden hervorgehoben, Fehler analysiert, um die ihnen zugrunde liegenden Mängel in der Arbeitsweise zu verdeutlichen. So werden Fehler nicht zu persönlichen Niederlagen, die es zu verdrängen gilt, sondern zu Lernmöglichkeiten, um die eigene Arbeitsweise zu verbessern und dadurch an Leistungssicherheit zu gewinnen.
Ein solcher sich letztlich dann selbst steuernder Lernprozeß kann jedoch nur in Gang gesetzt werden, wenn es gelingt, eine emotional tragfähige Arbeitsatmosphäre aufzubauen, in der nicht sich überbietendes Konkurrieren und verunsichernder Zeitdruck vorherrschen. Vielmehr sollen die Zeitvorgaben lediglich Orientierungsrahmen darstellen und im qualitätsbezogenen, zielstrebigen Arbeiten Möglichkeiten des„Modell-Lernens‘“ erschlossen werden.
Therapieziel ist ein aufgabenangemessenes, qualitätsgerechtes, möglichst fehlerfreies Arbeiten. Hierzu ist es notwendig, mit strukturierenden Fragen(anfangs über Fremd-, später über Selbstinstruktion)—„Was soll ich tun? Wie soll ich es machen? Habe ich alles? Kann das stimmen?“— die Aufgabenstellung klar zu erfassen, Teilschritte festzulegen, den Arbeitsablauf immer wieder bewußt am Ziel zu orientieren und schließlich das Erreichte bezüglich seiner Richtigkeit zu kalkulieren. Beim Aufbau solcher Lösungsstrategien erweist sich„Zeitdruck“, wie er zum Teil in pädagogischen Wettbewerbssituationen praktiziert wird, als ein untaugliches Mittel, das allenfalls zu erhöhtem Tempo, nicht aber zu verringerter Fehlerzahl führt. Das Effektivitätskriterium muß aber im richtigen Ergebnis liegen, nicht im erhöhten Tempo bei gleichbleibender Fehlerrate(Mitunter werden auch leistungspsychologische Evaluationen ausschließlich auf quantitative Parameter gestützt, Ergebnisse konzentrierten Arbeitens sollen aber nicht an der Stückzahl, sondern an der Qualität gemessen werden.).
Zudem zeigen Nachuntersuchungen, daß die Kinder mit zunehmender Leistungssicherheit und Verfahrenskenntnis ihr Leistungstempo von sich aus steigern—
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