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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Modells denjenigen desSozialwissen­schaftlich-lerntheoretischen Modells gegenüber. Eine kritische Sichtung von Symptomatologie und Diagnostik, Ätio­logie, Interventionsansätzen, Ansätzen zur Neufassung des globalen Hyperak­tivitäts-Konzepts und zur empirischen Überprüfung im Rahmen des Medizini­schen Modells ergab, daß auch die neue­ren deskriptiven und empirischen An­sätze zur Differenzierung desHyperak­tivitäts-Syndroms in hypothetische Sub­gruppen wenig zu einer sinnvollen Dia­gnose beim individuellen Kind beitra­gen. Weiter schließen alle ätiologischen Ansätze im Medizinischen Modell Um­welt- und Situationsfaktoren entweder von vornherein aus oder lassen sie weit­gehend unberücksichtigt. So setzt kon­sequenterweise die Therapie nicht an beobachtbarem Verhalten und den die­ses auslösenden bzw. aufrechterhalten­den situativen und sozialen Bedingun­gen an. Ansatzpunkte sind vielmehr im Kind vermutete Krankheits- bzw. Stö­rungsprozesse, und zwar je nach theore­tischer und praktischer Ausrichtung des Therapeuten auf unterschiedlichen Stö­rungsebenen. Skupnik-Henssler schließt, daß die am Medizinischen Modell orien­tierteHyperaktivitäts-Diagnostik kei­ne zwingenden kontrollierbaren(ursäch­lichen bzw. die Symptomatik aufrecht­erhaltenden) Bedingungen für hyper­aktives Verhalten liefere, an denen die pädagogisch-psychologische Interven­tion ansetzen könnte.

Bauer erörtert noch 1986 unter den Ur­sachen derMinimalen cerebralen Dys­funktion und/oder Hyperaktivität auf mehr als 17 Seiten prä-, peri- und post­natale Risikofaktoren, Aktivierungsstö­rungen, Entwicklungs- und Reifungs­verzögerungen, Vererbungsfaktoren und Nahrungsmittelunverträglichkeit, um dann auf nur knapp 3 Seiten zuUmwelt­einflüssen zu kommen: EineTendenz­wende habe sich erst in den allerletz­ten Jahren abgezeichnet. Auch bestehe noch Unsicherheit und Uneinigkeit dar­über, ob psychodynamische und sozio­ökonomische Faktoren das Symptom­bild auslösen, reaktiv verstärken oder als eigenständige ätiologische Verursa­chung in Frage kommen(36). Aller­

Ingeborg Wagner et al.+ Hyperaktive Verhaltensweisen bei Kindern

dings:Die Auslöse- und Verstärkungs­funktion umweltbedingter Ursachen wird bereits darin deutlich, daß mini­male Hirnfunktionsstörungen oder Hirn­schädigungen keineswegs immer zum Erscheinungsbild einer MCD führen müssen(36). Die angenommenen Um­welteinflüsse benennt Bauer recht un­spezifisch(u.a.Familienverhältnisse, besser operationalisierbar noch:Erzie­hungsstile); später diskutiert sie aber auch recht kurz Eltern- und Familien­sowie Psychotherapie und Verhaltens­therapie und stellt als für ältere Kinder besonders erfolgversprechend die Me­thoden des kognitiv orientierten Trai­nings heraus, die, verglichen mit medi­kamentöser Behandlung, die Prognose wesentlich günstiger beeinflussen. Nach Bauer(1986) muß diefamiliäre und schulische Umgebung... in jedem Fall in die Behandlung des Kindes mit­einbezogen werden, da sie auch an der Entstehung des Symptombildes unmit­telbar beteiligt war(114). Bei der Ver­haltenstherapie weist sie auf den hohen Aufwand und die damit verbundenen hohen Abbruchquoten hin, dadie an der Erziehung des Kindes beteiligten Personen erst einmal selbst mit den ent­sprechenden Techniken vertraut gemacht werden müssen, bevor sie die gezielte Beeinflussung der kindlichen Verhal­tensproblematik im häuslichen und schu­lischen Bereich unterstützen können (115), zumal daran zu erinnern ist, daß einer Behandlung oftjahrelange Inter­aktionsprobleme(112), Hilflosigkeit und Schuldgefühle vorangehen. Für ein Elterntraining zeigt Bauer(1986) drei Schwerpunkte auf: eine Eigenmodifi­kation der Eltern, umüber eine verbes­serte Selbstwahrnehmung und Selbst­regulation bestimmte Fehlreaktionen und Erziehungsfehler auszuschalten und ein neues Erziehungsverhalten einzuüben und zu praktizieren, fernerdie Ver­mittlung verhaltenstherapeutischer Maß­nahmen zwecks Beeinflussung des Kin­des im häuslichen Umfeld und Einwei­sung in bestimmte Förderungsmaßnah­men zur Beseitigung von Teilleistungs­störungen(123).

Wir fragten uns(1981), ob nicht eine genau in diesem Sinnesozialwissen­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 4, 1993

schaftlich-lerntheoretische Betrach­tungsweise die Voraussetzungen für eine pädagogisch-psychologische Interventi­on erfüllen konnte. Ziel und Anspruch der koordinierten Arbeiten war es denn auch, einen eigenen verhaltenstherapeu­tischen Ansatz zur Erklärung und Modi­fikationhyperaktiven Verhaltens zu entwickeln, der als Grundlage für das praktisch-therapeutische Handeln dienen und evt. sogar zur Entwicklung weite­rer, standardisierter Elterntrainings füh­ren könnte. Die Genese der hyperaktiven Verhaltensweisen wird also lerntheo­retisch gesehen, ohne daß allerdings die Organismus-Variablen vernachlässigt werden sollen. Im Hintergrund steht die Annahme, daß das Problemverhalten zumindest durch soziale Faktoren mit­determiniert ist(vgl. dazu den ähnli­chen Ansatz von Eisert et al. 1982).

Thesen zur Erklärung und Modifikation hyperaktiver Verhaltensweisen

Unsere Überlegungen zur Erklärung und Modifikation hyperaktiver Verhaltens­weisen können wie folgt zusammenge­faßt werden. Dabei ist anzumerken, daß der Geltungsbereich der Thesen aufnor­male Kinder eingeschränkt ist, die hyperaktive Verhaltensweisen zeigen.

Definition

Hyperaktive Verhaltensweisen sind kindliche Verhaltensstörungen; sie wer­den definiert als nicht-zielgerichtete Aktivitäten im motorischen und/oder verbalen Bereich.

Hyperaktive Verhaltensweisen bekom­men ihren Störwert für die soziale Um­welt durch ihre Situations-Unangemes­senheit und/oder durch ihre Frequenz­steigerung. Ihren Störwert für das Kind selbst erhalten sie dadurch, daß ihr Auf­treten die Erreichung der übergeordneten Ziele in der jeweiligen Situation in Fra­ge stellt.

Situationen, in denen hyperaktive Ver­haltensweisen auftreten, sind meist stark strukturierte Situationen oder Leistungs­

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