Ingeborg Wagner et al.* Hyperaktive Verhaltensweisen bei Kindern
situationen. Art und Ausprägungsgrad der Problemverhaltensweisen differieren individuell; sie treten häufig gemeinsam mit anderen Verhaltens- und Funktionsstörungen auf.
Genese
Hyperaktive Verhaltensweisen werden wie andere Verhaltensstörungen durch Lernprozesse erworben bzw. aufrechterhalten. Sie sind im Rahmen des operanten Modells als Annäherungs- oder Vermeidungsverhalten erklärbar; auch Prozesse des Modellernens können beim Erwerb hyperaktiver Verhaltensweisen eine Rolle spielen. In manchen Fällen kann eine genetisch-konstitutionelle oder organisch bedingte Bereitschaft vorliegen, hyperaktive Verhaltensweisen zu zeigen.
Diagnose
Zur Abklärung möglicher„organischer“ Variablen bei der Genese hyperaktiver Verhaltensweisen ist zunächst eine umfassende medizinische und testdiagnostische Untersuchung des Kindes erforderlich. Zentraler Ansatzpunkt im diagnostisch-therapeutischen Prozess ist jedoch das beobachtbare Verhalten. Eine genauere situationsspezifische Analyse der Reize und Reaktionen in der materiellen und sozialen Umwelt des Kindes, im engeren Sinne eine mehrdimensionale Analyse bestehender Kontingenzen in der Eltern-Kind-Interaktion liefert die Grundlage für die Therapieplanung im Einzelfall.
Modifikation
Entsprechend den Ergebnissen dieser
Analyse sind die Ansatzpunkte zur Mo
difikation der hyperaktiven Verhaltens
weisen
— die Modifikation der diskriminativen Stimuli der materiellen und sozialen Umwelt,
— die Modifikation der positiven oder negativen Verstärkungen materieller oder sozialer Art.
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Diesen Anforderungen werden solche Verfahren gerecht, die indirekt, also an den Bezugspersonen des Kindes, ansetzen, z.B. Eltern- oder Lehrertrainings. Weitere im Einzelfall durch medizinische und/oder testdiagnostische Verfahren ermittelte Störungen werden ggf. begleitend durch andere therapeutische Maßnahmen angegangen.
Exkurs zum DSM II
Suchen wir nach verhaltensorientierten Beurteilungssystemen, so bietet sich inzwischen das DSM II(1986) an. Nach diesem System diagnostischer Kriterien wird bei Achtbis Zehnjährigen dann eine„Störung mit Aufmerksamkeitsdefizit bei Hyperaktivität“ diagnostiziert, wenn aus den drei Hauptbereichen„Unaufmerksamkeit“,„Impulsivität“ und„Hyperaktivität“(HA) über mindestens sechs Monate hinweg je mindestens drei bzw. zwei(bei HA) Unterpunkte zutreffen(bei jüngeren Kindern können für diese Diagnose mehr, bei älteren weniger zutreffen). Die Unterpunkte(Operationalisierungen) sind:
— bei Unaufmerksamkeit:„1. das Kind beendet vielfach nicht, was es anfängt; 2. scheint oft nicht zuzuhören; 3. ist leicht ablenkbar; 4. hat Schwierigkeiten, sich auf Schularbeiten oder andere Tätigkeiten, die längere Aufmerksamkeit erfordern, zu konzentrieren; 5. hat Schwierigkeiten, bei einer Spielaktivität zu bleiben.“
— bei Impulsivität:„1. handelt oft, ohne zu überlegen; 2. wechselt sehr häufig von einer Beschäftigung zur anderen; 3. hat Mühe, seine Arbeit zu planen(nicht durch mangelnde intellektuelle Leistungsfähigkeit bedingt); 4. braucht viel Aufsicht; 5. ruft häufig im Unterricht dazwischen; 6. hat Schwierigkeiten, beim Spielen und in der Gruppe abzuwarten, bis es dran ist.“
— bei Hyperaktivität:„1. läuft viel herum und klettert überall hinauf; 2. hat Schwierigkeiten stillzusitzen oder zappelt sehr viel; 3. hat Schwierigkeiten, sitzen zu bleiben; 4. bewegt sich sehr viel im Schlaf; 5. ist immer ‚auf dem Sprung‘ oder ‚wie aufgezogen‘“(S. 36).
Hier allerdings werden Urteile über Ver
haltensweisen verlangt, die erst über kom
plizierte Einschätzungsprozesse bei Eltern oder Lehrpersonen zustandekommen. Die
„störende“ Qualität seiner Verhaltensweisen
wird dem Kind zugeschrieben; die Verhal
tensweisen lassen sich nicht„objektiv“ erfassen(z.B. auszählen und vergleichen) und berücksichtigen nicht die möglicherweise zugrundeliegende„gestörte“ soziale Inter
aktion zwischen Kind und Beurteiler. Die Interaktion aber müßte nach unseren lernpsychologischen Annahmen besonders bedeutsam für die Entstehung bzw. Verfestigung des hyperaktiven Verhaltens und für seine Verminderung sein.
Fragestellungen
Die Fragestellungen ergaben sich aus den aufgeführten Thesen.
® Können bei einem Kind, bei dem „Hyperaktivität“ diagnostiziert wurde, Verhaltensweisen beobachtet werden, die als nicht-zielgerichtete Aktivitäten im motorischen und/oder verbalen Bereich definiert und beschrieben werden können?
® Können aufgrund einer Analyse der bestehenden Eltern-Kind-Interaktionen Hinweise darauf gefunden werden, daß bei Erwerb oder Aufrechterhaltung der hyperaktiven Verhaltensweisen Prozesse des Modellernens oder Prozesse des operanten Konditionierens eine Rolle spielen?
® Können diese hyperaktiven Verhaltensweisen und ggf. damit einhergehende Verhaltensstörungen bei einem entsprechenden Ergebnis der Bedingungsanalyse durch ein Elterntraining, d.h. durch die Modifikation der diskriminierenden Stimuli und durch die Modifikation positiver oder negativer Konsequenzen in der materiellen und sozialen Umwelt des Kindes reduziert werden?
® Bietet das von uns entwickelte und in Einzelfällen erprobte Einzeltraining eine Grundlage zur Weiterentwicklung dieser Interventionsform für die Eltern von Kindern mit hyperaktiven Verhaltensweisen, z.B. in Richtung einer Standardisierung des Trainings oder einer Anwendung in Elterngruppen?
Diese Fragen werden in der Schlußdiskussion wieder aufgegriffen.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 4, 1993