Methodisches Vorgehen Diagnostik
Die Kinder wurden von Mitarbeitern des Früherkennungszentrums Bonn nach eingehender routinemäßiger ärztlicher und psychologischer Untersuchung für das Training ausgewählt(Familienanamnese, Verlauf der Schwangerschaft und der Geburt, bisherige Entwicklung, neurologischer Status, Untersuchung auf evtl. Stoffwechselstörungen und evtl. Teilleistungsschwächen). Bedingung für die Teilnahme waren darüber hinaus das Auftreten hyperaktiver Verhaltensweisen und Hinweise auf die Abhängigkeit des auffälligen Verhaltens des Kindes vom elterlichen Verhalten. Auch sollte die Bereitschaft der Eltern zu einem Training gegeben sein.
Die eigene Diagnostik vor dem Training umfaßte: jeweils mehrere Explorationen mit Eltern bzw. Müttern und ggfs. Geschwistern, Befragung weiterer Erziehungspersonen und des Kindes selbst. An standardisierten Diagnose-Instrumenten wurden, in z.T. modifizierter Form, eingesetzt: der Problemspezifizierungsbogen nach Dubey(1976), die Werry-Weiss-Peters-Activity-Scale nach Werry(1968) und die Marburger Verhaltensliste von Ehlers u.a.(1976), um die subjektive Wahrnehmung und Einschätzung des kindlichen Verhaltens durch die Eltern möglichst genau zu erfassen und spätere Veränderungen nachweisen zu können.
Um die Eltern-Kind-Interaktion zu erfassen, wurde für jedes Kind eine typische Situation in der natürlichen häuslichen Umgebung ausgewählt, in der das Problemverhalten besonders markant aufzutreten pflegte(Essen, Hausaufgabenmachen), die dann kontinuierlich von je zwei der Autoren beobachtet wurde. Dazu wurde zunächst an Ort und Stelle ein eigenes Beobachtungssystem mit wenigen relevanten und trennscharfen Kategorien entwickelt. Die Erhebungen dienten zur Erstellung der Bedingungsanalyse und der Grundkurve (Baseline) der Interaktionen und wurden nach dem Training zweimal wiederholt. Als Erklärungsmodell wurde die
Ingeborg Wagner et al.* Hyperaktive Verhaltensweisen bei Kindern
Kanfer’sche Verhaltensgleichung herangezogen(Kanfer& Saslow 1976), die Trainingsziele sollten sich an den Ergebnissen der Datenanalyse orientieren.
Training
In den Elterntrainings werden vor allem folgende /nhalte vermittelt(angelehnt an: Müller& Moskau 1978):
— Lerntheoretische Grundlagen zur Begründung unseres Vorgehens,
— Beobachtung des eigenen und des kindlichen Verhaltens durch die Eltern zur Vorbereitung der Verhaltensmodifikation,
— Techniken der positiven Bekräftigung, um erwünschte kindliche Verhaltensweisen aufzubauen oder aufrechtzuerhalten,
— Löschungstechniken, die unerwünschte kindliche Verhaltensweisen abbauen, und
— Ausblenden diskriminierender Stimuli, um unerwünschte kindliche Verhaltensweisen schon im Vorfeld vermeiden zu helfen.
Als Methoden werden eingesetzt:
— Gespräche mit möglichst ermutigendem Inhalt,
— ein Manual(z.T. selbst erstellt, mit größeren Passagen aus Müller& Moskau 1978), das von Sitzung zu Sitzung auf den Einzelfall„zugeschnitten“ wird,
— Feedback-Techniken(Konfrontation mit Daten und der Baseline, Tonbandund direktes persönliches Feedback, Einschätzung aller Sitzungen durch die Eltern),
— Lernen vom Vorbild(Modellernen, Beobachten eines der Autoren),
— als Kontrolltechniken: Beobachtungsbögen, Strichlisten, begleitende Verhaltensbeobachtung, WerryWeiss-Peters-Activity-Scale und Marburger Verhaltensliste,
— und zur Erhöhung des Trainingserfolgs werden einige Maßnahmen zur Verallgemeinerung(Generalisierung) des Gelernten und zur Förderung der Kooperation eingesetzt.
Am Ende des Trainings, in der Ablö
sungsphase, werden die Familien von
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 4, 1993
ihren Trainern auf eine selbständige Weiterverwendung der neuen Interaktionskompetenzen vorbereitet. Für die Effektivitätskontrolle werden nochmals die erwähnten Skalen verwendet, und eine erneute systematische Verhaltensbeobachtung erlaubt den Vergleich mit den anfänglich erhobenen Interaktionen (Baseline). In einer ersten Nachbetreuungsphase von ca. sechs Wochen gibt es regelmäßige telefonische oder auch schriftliche Kontakte, und die Nachkontrolle(Follow-up) zur Erhebung des Langzeiteffekts wird zwei bzw. drei Monate nach Abschluß des Trainings durchgeführt.
Durchführung und Ergebnisse Erste Beobachtungen
Bevor das ausführlichere Fallbeispiel „Günther“ vorgestellt wird, seien kurz die beiden vorher beobachteten Kinder beschrieben:
—„Paul“(Weber 1981) wird mit 5;10 Jahren vorgestellt wegen vieler störender Verhaltensprobleme: Er sei sehr unruhig, er„motze‘“, hampele und strampele beim Essen, stoße mit den Füßen den Tisch um, esse sehr schlecht, mache immer das größte„Theater“, wenn er sein Zimmer aufräumen soll, könne sich nicht allein beschäftigen, fange ständig etwas Neues an, trödele herum; er versuche seinen Willen unbedingt durchzusetzen. Wenn er um Hilfe bittet, tue er das mit„weinerlicher“ Stimme, auch bitte er ständig um Bestätigung („Ist es so gut?“). Paul störe sehr, wenn Gäste im Haus sind, und lenke deren Aufmerksamkeit„provozierend“ auf sich.
Paul, der im Alter von drei Monaten zunächst als Pflegekind in die Familie kam und adoptiert wurde, war schon als Baby sehr unruhig. Er näßt gelegentlich tagsüber noch ein. Paul geht sehr gern in den Kindergarten, wo er einen festen „ruhigeren“ Freund hat; auch die Kindergärtnerin beklagt aber seine Unruhe. Er hat eine 16-jährige Adoptiv-Schwester. Die Eltern haben kürzlich eine Partnertherapie mitgemacht.
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