Paul wurde mehrfach in der Essenssituation mit seiner Familie beobachtet, und das Training mit den Eltern brachte große Verbesserungen im Sinne einer Zunahme des erwünschten und einer Abnahme des unerwünschten Verhaltens mit sich.
—„Peter“(Kröger 1981) ist bei der Vorstellung 8;9 Jahre alt. Er ist Legastheniker und stottert seit langer Zeit. Sein Bruder ist 12 Jahre alt. Peter wird wegen sehr großer Ablenkbarkeit und Konzentrationsproblemen, wegen Leistungsverweigerung und„Jähzorn“ vorgestellt. Er bekomme leicht Wutanfälle, besonders wenn er sich ungerecht behandelt fühle. Peter sei emotional leicht erregbar, sensibel, ein Mutterkind, und schmuse viel. Er habe große Angst vor Sirenen und Unfällen, sei aber trotzdem eher selbstbewußt. Peter sei sehr unruhig, mache„Faxen“ in der Klasse, wolle gern der Anführer sein, ziehe sich aber zurück, wenn er keinen Erfolg hat, und wenn er dann geärgert wird, trete er um sich. Die Lehrerin nennt ihn ein„Problemkind“, ihren schwierigsten Schüler in 20 Jahren. Peter macht sehr ungern Hausaufgaben und braucht dazu — mit der Mutter— immer den ganzen Nachmittag. Peter macht dabei immer eine Menge Geräusche,„blubbert‘“ und erzählt. Nur das Rechnen geht ihm gut von der Hand.
Peter wird mehrfach mit der Mutter bei den Hausaufgaben beobachtet. Das Training erbringt eine beträchtliche Abnahme des unerwünschten und eine entsprechende Zunahme des erwünschten Verhaltens bei Mutter und Kind.
Fallstudie„Günther“ (C. Kellner 1981)
Günther wird mit 7;3 Jahren wegen folgender Problemverhaltensweisen vorgestellt: Er sei jähzornig, beschimpfe seine Familienmitglieder ständig auf„unflätige“ Weise, schlage Mutter und Bruder(4;7 J.), gelegentlich auch den Vater, besonders wenn er kritisiert, ermahnt oder ausgeschimpft wird oder wenn ihm etwas erklärt wird. Er kann sich bei den
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Ingeborg Wagner et al.+ Hyperaktive Verhaltensweisen bei Kindern
Hausaufgaben sehr schlecht konzentrieren und ist extrem unruhig. Schon als Baby war er sehr unruhig, schrie viel, schlief schlecht. Sehr seltene Krampfanfälle verschwanden schnell, aber er wurde deshalb doch sehr besorgt beobachtet. Er sei sehr unselbständig, achte nicht auf die Zeit und lasse sich gern bedienen. Im Kindergartenalter hatte er eine Sprachstörung. In der Schule bringe er, wie früher im Kindergarten, mit seiner Unruhe immer alles durcheinander. Er könne seine Gefühle nicht kontrollieren: Schmusen und Schimpfen wechselten ab, er sei„unberechenbar“‘, spiele auch oft den Clown.— Günther ist trotz normaler Intelligenz ein schlechter Schüler und ein Außenseiter, der andere Kinder„vergrault‘“, Regeln schlecht einhalten kann, nicht verlieren kann, oft geneckt wird und dann zuschlägt.
Die Mutter erlebt besonders die Essensund die Hausaufgaben-Situation mit den täglichen Schimpfkanonaden von Günther als belastend. Die Situation erscheint für beide als sehr schwierig: „Manchmal kann Günther so lieb sein, dann verzeih’ ich ihm alles... Manchmal denk’ ich, woher hat er das bloß. Dann bin ich sauer auf ihn... Ich glaub’, zwischen uns besteht so eine Art Haßliebe. Mal drückt er mich und sagt: ‚Mama, ich hab’ dich lieb‘, ein ander Mal: ‚Ich hasse dich‘.“
Eine frühere kurzzeitige Beratung hat keinen Erfolg bei den Problemen gebracht. Während einer schnell wieder abgesetzten einwöchigen Ritalin-Behandlung sei Günther„zwar ruhiger, aber auch aggressiver“ geworden. Den Trainern gegenüber äußert sich Günther sehr offen über seine Unangepaßtheit und erzählt u.a., er sei ein„kleiner Teufel“.
Die eingehende psychodiagnostische Untersuchung ergab eine gut altersdurchschnittliche Intelligenz und(Test)Konzentrationsfähigkeit. Auch aufgrund neurologischer Untersuchungen kann angenommen werden, daß die Gründe für Günthers Verhaltensauffälligkeiten nicht im organischen bzw. neurologischen Bereich zu suchen sind.
® Die Beobachtung in der Hausaufgabensituation
Das Verhalten von Mutter und Sohn wurde zuerst in zwölf HausaufgabenSitzungen frei protokolliert und dann fünfmal nach einem inzwischen erarbeiteten problemorientierten Kategoriensystem. Die Kategorien waren(verkürzt) folgende:
— das Verhalten der Mutter betreffend A. adäquat(aufgabenbezogen) helfen, erklären, verbessern I. inadäquat helfen usw.(z.B. vorsagen, buchstabenweise diktieren) E. emotionale Unterstützung geben, motivieren F. auffordern, initiativ werden, steuern G. auf zielungerichtete Aktivitäten, Jammern, Schlagen und Blockieren des Kindes eingehen, u.a. durch Ermahnen, Abwerten auf Gegenvorschlag eingehen, nachgeben L. loben, Freude zeigen Z. zustimmen Die Kategorien F, G und I bezeichnen unerwünschte Verhaltensweisen der Mutter.
GV:
— das Verhalten des Kindes betreffend
a. aggressive Verhaltensweisen zeigen, verbal oder nonverbal(ohne körperliche Attacken, vgl. dazu ‚sch‘)
b. blockieren, verneinen, verweigern, sich abwenden
ge. gehorchen, sich entsprechend Situation und Aufgabe verhalten, auf aufgabenbezogene Impulse eingehen, selbständig Aufgaben erledi
gen
gv. aufgabenbezogenen Gegenvorschlag machen
h. um Hilfe, Feedback, Erklärung bitten
j. jammern, stöhnen, weinen
m. zielungerichtete motorische Aktivität zeigen, z.B. hampeln
sch. schlagen, körperlich angreifen
V. zielungerichtete verbale Aktivität zeigen, z.B.„blubbern“
Die Kategorien a, b, j, m, sch und v
bezeichnen unerwünschte, die Katego
rien ge und gv erwünschte Verhaltens
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 4, 1993