dings wäre eine zu große Verallgemeinerung aus den Erfahrungen mit den Einzelfällen sicher verfehlt. Wir glauben trotzdem, daß die deutliche Tendenz der Ergebnisse für die vorsichtige Beantwortung unserer Fragen ausreicht. Die drei Jungen wurden aufgrund ihrer „hyperaktiven“ Symptomatik und aufgrund der Bereitschaft ihrer Eltern bzw. Mütter, an einem Training teilzunehmen, ausgewählt. Auswahlkriterien sollte unsere Arbeitsdefinition geben: „‚Hyperaktive‘ Verhaltensweisen sind kindliche Verhaltensstörungen, die als nicht zielgerichtete Aktivitäten im motorischen und/oder verbalen Bereich definiert werden. Sie bekommen ihren Störwert für die soziale Umgebung durch ihre situationsspezifische Unangemessenheit und/ oder durch ihre Frequenzsteigerung. Durch ihr Auftreten wird die Erreichung des übergeordneten situationsspezifischen Zieles u.U. in Frage gestellt; dadurch erhalten sie ihren Störwert für das Kind selbst“(SkupnikHenssler 1981, 195).
Bei den drei Kindern konnten in der Tat Verhaltensweisen beobachtet werden, die dieser Definition entsprachen.
Bei Paul(Weber 1981) traten sie besonders in der beobachteten Essenssituation auf, jedoch— nach Aussagen der Kindergarten-Erzieherin— auch in leistungsbezogenen Situationen wie bei Lernspielen. Hyperaktive Verhaltensweisen äußerten sich vor allem motorisch, weniger dagegen im verbalen Bereich. Bei den älteren Kindern, Günther(Kellner 1981) und Peter(Kröger 1981), wurden hyperaktive Verhaltensweisen in der Hausaufgabensituation beobachtet. Sie äußerten sich bei Peter vor allem im verbalen Bereich; er summte,„blubberte‘, sang und sprach unverständliche Silben vor sich hin, unabhängig von der Aufgabenstellung.
Für alle drei Kinder kann gesagt werden, daß diese Verhaltensweisen, die an sich durchaus„normal“ sind, ihren Störwert durch eine Steigerung ihrer Auftretenshäufigkeit und durch die Situations-Unangemessenheit bekamen. In allen Fällen waren sie zumindest einer der Gründe für die Vorstellung im Früherkennungszentrum gewesen.
Ingeborg Wagner et al.* Hyperaktive Verhaltensweisen bei Kindern
Auch das Kriterium des Störwertes für das Kind selbst kann als erfüllt betrachtet werden. Das Erreichen übergeordneter Ziele wie Essen, HausaufgabenErledigen oder von Teilzielen(Schneiden einer Scheibe Brot, Schreiben eines Wortes) wurde durch hyperaktive Verhaltensweisen verzögert oder gänzlich verfehlt, indem z.B. die Mutter schließlich dem Kind soviel half, daß nicht das Kind selbst, sondern vielmehr die Mutter das Ziel„Hausaufgaben erledigen“ erreichte.— Dies ist übertragbar auf die Essenssituation von Paul: Er„hampelt“ so sehr herum, daß ihm kaum Zeit bleibt, seine Portion zu essen.
Dabei kann es durchaus sein, daß das Kind ein anderes„Ziel“ verfolgt, nämlich die Mutter dazu bringen will, ihm möglichst viel zu helfen oder ihm möglichst viel Aufmerksamkeit zu schenken, aber dabei handelt es sich eben nicht um das situationsgerechte übergreifende Ziel.
Abschließend kann gesagt werden, daß hyperaktive Verhaltensweisen gemäß unserer Definition in der Praxis beobachtet werden konnten. Anzumerken bleibt, daß sie, vor allem bei den beiden älteren Kindern, im Zusammenhang mit anderen Verhaltensauffälligkeiten gesehen werden müssen(dazu s.0.).
Die Verschiedenartigkeit der mit den hyperaktiven Verhaltensweisen einhergehenden Verhaltensstörungen und Teilleistungsschwächen schränkt die Vergleichbarkeit der drei„Fälle“ drastisch ein, zumal der soziale Hintergrund der Familien ebenfalls sehr unterschiedlich war. Das wirft die Frage auf, inwieweit Elterntrainings überhaupt„problemspezifisch“ entwickelt werden können.
Die Beobachtung, daß hyperaktive Verhaltensweisen zusammen mit anderen Verhaltensstörungen, Teilleistungsschwächen oder Funktionsdefiziten auftreten, bei denen eine organische Bedingtheit weder ausgeschlossen noch nachgewiesen werden kann, darf wohl verallgemeinert werden. Sie entspricht den meist breitgefächerten Symptomen des von medizinisch orientierten Forschern beschriebenen„Hyperaktivitäts
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 4, 1993
Syndroms‘“. Wenn, wie z.B. bei Günther, auf die ursprünglich hyperaktiven Verhaltensweisen mißbilligend und bestrafend reagiert wird, ist es vorstellbar, daß aggressive Verhaltensweisen diese zusätzlich überlagern, da das Kind im Laufe der Zeit lernte, immer massivere Mittel einzusetzen, um sich in der sozialen Umgebung Aufmerksamkeit und Geltung zu verschaffen. Bei Peter und Paul konnte ein gekoppeltes Auftreten von hyperaktiven und erwünschten Verhaltensweisen beobachtet werden, und hier wurden dann auch die erwünschten Verhaltensweisen nicht mehr mit positiver Zuwendung belohnt.
Lassen sich nun die hyperaktiven Verhaltensweisen der Kinder aus den Eltern-Kind-Interaktionen erklären?
Es wurden in unseren drei Fällen hyperaktiven Verhaltens keine Hinweise auf biogenetische Faktoren oder eine hirnorganische Bedingtheit gefunden. Auch Imitations- oder Modellernen 1äßt sich in der Genese nicht nachweisen. Dagegen ergaben die Beobachtungen deutliche Hinweise darauf, daß die hyperaktiven Verhaltensweisen(und andere Verhaltensauffälligkeiten) operant aufrechterhalten wurden und entsprechend vermutlich operant konditioniert worden waren: In allen drei Fällen lag eine wechselseitige Bedingtheit der elterlichen und kindlichen Problemverhaltensweisen vor. Allerdings gab es von Fall zu Fall Unterschiede bezüglich des spezifischen familiären Interaktionsmusters.
Paul erhielt auf seine hyperaktiven Verhaltensweisen hin die offenbar von ihm gesuchte, wenn auch negative Zuwendung der Eltern(beiderseitiges Annäherungsverhalten). Bei Peter kann die starke Direktivität seiner Mutter als ein das Problemverhalten bedingender Faktor oder aber als Reaktion auf die hyperaktiven Verhaltensweisen begriffen werden. Bei Günther kann man das mütterliche Verhalten eher als Vermeidungsverhalten beurteilen. Allerdings wurden hier auch noch einige diskriminative Stimuli(mehrdeutige Botschaften: überfreundlich vorgetragene Kritik) zur Erklärung herangezogen.
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