Buchbesprechungen
U. Finger-Trescher& H.-G. Trescher: Aggression und Wachstum. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 1992, 172 S.
Fast eine Provokation stellt der Titel dieses Buches dar, angesichts einer gegenwärtigen öffentlichen Gewaltdiskussion, die nur Strafen, Etikettieren und Schuldzuweisung zu kennen scheint. Aber er macht auch neugierig. Das vorliegende Buch ist der Sammelband einer gleichnamigen Tagung des Frankfurter Arbeitskreises für psychoanalytische Pädagogik, die 1991 in Frankfurt stattfand. Der Leser, der angesichts einer einseitigen öffentlichen Diskussion und einer sich oft wiederholenden pädagogischen Fachliteratur neue und ungewohnte Aspekte zur Gewaltdiskussion kennenlernen möchte, ist in der Auseinandersetzung mit der weniger bekannten psychoanalytischen Pädagogik auf dem richtigen Weg. Die Bandbreite der Beiträge spannt sich von grundlegenden Fragen zum Verständnis der Aggression über die Aggressionsdynamik in Familien, Institutionen und zwischen Geschlechtern bis hin zu gut lesbaren praktischen Aspekten in Einzeltherapie und Schule.
Psychoanalytische Pädagogik ist sensible Pädagogik, die sich nicht mit dem Offensichtlichen zufrieden gibt. Sie schaut genauer hin und fragt nach der unbewußten Ebene. Diese versucht sie mit ihren Deutungen zu verstehen, die allerdings für den Außenstehenden gelegentlich schwer verständlich, ungewohnt, ja spekulativ wirken. Sie betrachtet institutionelle und soziale Bedingungen unter der Fragestellung, wie dort aus destruktiver Aggressivität„gekonnte Aggression“(Mitscherlich) wachsen kann; im Sinne von„aktiv gestaltendem Verhalten, Durchsetzung des eigenen Standpunktes, Zielstrebigkeit, Selbstbehauptung und nicht zuletzt ‚Zivilcourage‘“(Kutter, S. 18). Dieses Wachstum kann, wie Kutter in seinem Beitrag formuliert, durch„neue Erfahrungen und deren Verinnerlichung“ ermöglicht werden. Er stellt die These auf, daß die latente Sympathie für Aggressionen in unserer Gesellschaft nur deshalb im Zaume gehalten wird, weil wir aggressive Stellvertreter zur Verfügung haben, die für uns im Straßenverkehr oder auf den weltweiten Kriegsschauplätzen ihre Aggressionen leben. „Dadurch daß andere stellvertretend für uns
töten... brauchen wir uns selbst nicht aggressiv zu fühlen“(S. 17).
Rauchfleisch legt dar, wie psychoanalytische Pädagogik die seelischen Ursachen für destruktives Verhalten sieht. Es ist„die frühe Erfahrung schwerer... Versagungen und Einschränkungen in der Autonomieentwicklung“(S. 40). In seinem Beitrag wird deutlich, welche Not und welches Leid hinter den Taten von Gewalttätern stehen:„Sie externalisieren viele innere Konflikte und inszenieren sie handelnd in der sozialen Realität“(S. 41). In der Beschreibung seines therapeutischen Arbeitens kann der Leser ein Stück nachvollziehen, was mit dem Wort „Wachstum“ gemeint ist.
Zwei Beiträge widmen sich dem Zusammenhang zwischen Aggression und Geschlecht. Eggert-Schmied Noerr setzt sich unter der plakativen These„Männer erschießen— Frauen vergiften“ mit dem geschlechtsspezifischen Ausdruck aggressiven Handelns auseinander. Sie erläutert, wie Männer und Frauen Bedrohung unterschiedlich erleben, ihre aggressiven Impulse unterschiedlich verarbeiten und ausdrücken. Die bei Mädchen und Frauen zu beobachtende gehemmte Form des aggressiven Ausdrucks wird ihrer Meinung nach durch das Fehlen von männlichen Pädagogen in Kindergarten und Schule immer wieder neu verfestigt. Daher fordert Schäfer in ihrem Beitrag die Entwicklung von Bildern und Modellen legitimer weiblicher Agressionsformen, mit denen Frauen sich auch identifizieren können. Sie fordert Frauen auf, sich zusammenzutun und gemeinsam Formen einer aggressiven weiblichen Identität zu entwickeln.
Wie äußere Strukturen zur inneren Strukturierung führen können wird in zwei weiteren Beiträgen thematisiert. Trescher& Finger-Trescher beschreiben, wie Kinder heute in einer pluralistischen und subjektivistischen Welt verunsichert aufwachsen. Wo innere Grenzen und Strukturen fehlen, sind Menschen um so mehr auf läußere Struktur und erfahrbaren Halt angewiesen. Diese haltgebende Funktion fordern die Autoren von PädagogInnen gerade in den aktuellen aggressiven Auseinandersetzungen ein. Aggressiven Kindern in der Konfliktsituation standzuhalten erfordert zwangsläufig auch einen professionellen Umgang mit der in diese chaotischen Situation leicht aus den
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 1, 1993
Fugen geratenden eigenen Psychodynamik. Dazu geben die Autoren hilfreiche Anregungen. Doch sollten PädagogInnen und LehrerInnen destruktiv aggressive Kinder nicht heilen wollen, sondern Wachstumshelfer sein: Sie können nur„einen potentiellen Raum zur Verfügung stellen, in dem das Kind korrektive soziale Erfahrungen machen und diese für seine Entwicklung nach eigenen Maßstäben nutzen kann“(S. 101). Matter zeigt in seinem Beitrag, wie durch das Erlernen institutioneller Schulregeln die „zivilisatorische Urbarmachung“ der noch ungezügelten Sinnlichkeit der Kinder geschieht. Die unterrichtlichen Strukturen wie Elementarisierung und Hierarchisierung der Lerninhalte oder die(ursprünglich aus Klöstern stammende) Zeitanpassung fordern vom Kind eine innere Selbstregulation, die es immer zwiespältig erleben kann; Matters institutionelle Analyse ist ein wichtiger konstruktiver Beitrag angesichts des immer wieder zu hörenden und zu lesenden pauschalen Vorwurfs von„struktureller Gewalt“ in der Schule.
Büttner& Hofmann führen den Gedanken der zwiespältigen Strukturbildung in ihrem Beitrag„Aggression und Schule“ weiter. In ihrer gruppendynamischen Mikroanalyse einer Konfliktsituation zeigen sie, wie auch in der Schule durch Überforderung, Wegtrösten und Gleichgültigkeit seelische Not von Kindern übersehen oder erst geschaffen werden kann. Die Autoren fordern von LehrerInnen, Sich allen aggressiven Konflikten in der Schule verantwortlich zu stellen und sich nicht durch Ausgrenzung und Etikettierung auffälliger Schüler oder durch Schuldzuweisung an die Eltern aus der Verantwortung zu stehlen.
Insgesamt bietet das Buch eine Fülle von differenzierten analytischen Betrachtungen und Aspekten, die in der gegenwärtig emotionalisierten Gewaltdiskussion beachtenswert sind. Allerdings bleibt der praktische Ertrag aus diesen Analysen hinter den Erwartungen zurück. Damit steht auch dieses Buch in der Tradition vieler neuer Veröffentlichungen zum Gewaltphänomen, die zwar umfangreich theoretisieren und analysieren, aber dem Praktiker in der belastenden aktuellen Konfliktsituation nur magere Hilfestellungen geben können. Wer aber glaubt, durch die theoretische Auseinander
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