Franz B. Wember*
Möglichkeiten und Grenzen des Einfühlenden Verstehens
führen Konflikte zum Bruch, wann und unter welchen Bedingungen zur Vertiefung einer zwischenmenschlichen Beziehung? Diese— zweifelsohne interessante— Frage schlüssig zu beantworten, kann nicht Gegenstand dieses Artikels sein. Dennoch soll eine Teilantwort vorgeschlagen werden: Streiten kann positiv enden, solange die Streitenden eine gemeinsame Basis von gegenseitigem Verstehen verbindet. Ist jedoch diese Basis verlorengegangen, ist das Ende nahe.„Du verstehst mich nicht mehr“, oder, schlimmer,„Du willst mich nicht mehr verstehen“ werfen die Interaktionspartner einander vor, und sie meinen damit:„Du bist nicht mehr in der Lage bzw. nicht mehr willens, meine Handlungen und meine Worte aus meiner Perspektive zu sehen und nachzuvollziehen.‘ Geht das Verstehen verloren, zieht Entfremdung ein: Die Interaktionspartner werden einander fremd, begegnen einander immer verständnisloser und ziehen es schließlich vor, einander überhaupt nicht mehr zu begegnen.
Die sonderpädagogische Alltagsarbeit besteht, vereinfacht ausgedrückt, im wesentlichen darin, daß relativ wenig behinderte Erwachsene professionell interagieren mit relativ deutlich behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern und Jugendlichen. Die Erwachsenen, im folgenden kurz Sonderpädagogen genannt, sind relativ wenig behindert, weil sie über bestimmte, gesellschaftliche positiv bewertete Leistungsdispositionen verfügen, die sie in die Lage versetzen, bestimmte individuelle Leistungen zu erbringen, welche die Gesellschaft von ihren Mitgliedern erwartet und die zumeist direkt oder indirekt mit der Teilnahme des Individuums am gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß— hier vor allem in der Berufs- und Arbeitswelt— in Verbindung stehen. Die Kinder und Jugendlichen, im folgenden kurz Behinderte genannt, sind relativ deutlich behindert, weil sie nur eingeschränkt über jene individuellen Leistungsdispositionen verfügen, so daß ihre Eingliederung in das private und öffentliche Leben erschwert ist und ihre aktive Mitarbeit in der Berufs- und Arbeitswelt unter den Bedingungen einer auf Wett
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bewerb ausgerichteten Leistungsgesellschaft zumindest fraglich ist(Bleidick, 1984, S. 39—52; Haeberlin, 1985a, S. 25—34).
In günstigen Fällen kommt es in der alltäglichen Arbeit— zumindest partiell— zu einer ‚,... gemeinsam geteilten Lebenswelt heilpädagogischer Praxis, in der Heilpädagogen und die ihnen anvertrauten behinderten Personen existentiell verbunden sind‘(Gröschke, 1989, S. 399). In günstigen Fällen führen häufig wiederkehrende Interaktionen zwischen Sonderpädagogen und Behinderten auch dann, wenn sie ursprünglich rein professionell angeregt wurden, im Laufe der Zeit zu ernsthaften zwischenmenschlichen Beziehungen, zu Partnerschaften, die je nach den beteiligten Personen mehr oder minder intensiv erlebt werden. Erfahrungsgemäß tauchen jedoch auch in solchen zwischenmenschlichen Beziehungen Probleme und Konflikte auf, die, werden sie von den Interaktionspartnern in konstruktiver Weise bearbeitet und gelöst, eine Vertiefung und Festigung der zwischenmenschlichen Beziehung herbeiführen können, die jedoch auch die Interaktion zwischen dem Sonderpädagogen und dem ihm anvertrauten Kind belasten können— möglicherweise so stark, daß es zu einem Bruch kommt. Solch ein Bruch ist häufig für beide Interaktionspartner von Nachteil. Besonders gravierend sind die Nachteile jedoch für den schwächeren Interaktionspartner, und dies ist selten der Sonderpädagoge, dies ist fast immer das behinderte und objektiv auf Hilfe angewiesene Kind. Die Frage, wann und unter welchen Bedingungen zwischenmenschliche Beziehungen aufrechterhalten werden und wann und unter welchen Bedingungen es zum Bruch kommt, wird vor diesem Hintergrund zu einer sonderpädagogisch relevanten, wenn nicht zentralen Frage. Die Teilantwort, die weiter oben bereits gegeben wurde und die lautete, es komme auf das gegenseitige Verstehen an, wäre folglich, falls sie sich als richtig erweisen sollte, eine sonderpädagogisch relevante, wenn nicht zentrale Antwort,
Dieser Arbeit liegt, wie der Titel unschwer erkennen läßt, die Auffassung zugrunde,
daß das zwischenmenschliche Verstehen wesentliches Moment in der sonderpädagogischen Arbeit sein muß, und zwar in Forschung und Praxis, bei der kognitiven Förderung ebenso wie bei der Förderung im Bereich des emotionalen und sozialen Lernens, Diese Auffassung ist in der sonderpädagogischen Fachliteratur der letzten Jahre durchaus kontrovers diskutiert worden(vgl. Ammann, 1987; Anstötz, 1985; 1986; Huppertz, 1985; Schumacher, 1985; 1987), und dafür gibt es mehrere Gründe: Zum ersten ist der Begriff des Verstehens, wenn er als terminus technicus gebraucht wird, traditionell vielschichtig und facettenreich, laut Hörmann (1983, S. 13)„...5SO vielfältig und so divergierend wie die Deutungen des Lächelns der Mona Lisa.‘ Wir sprechen z.B. vom„Verstehen“ eines Textes, wenn der Leser die Aussagen dieses Textes im Sinne des Autors interpretiert, vom„Verstehen“ eines Symbols, wenn der Betrachter dessen Bedeutung erinnert oder kontextuell erschließt, vom„Verstehen“ eines logischen Arguments, wenn der Denker die Prämissen inhaltlich erfaßt und die Konklusionen korrekt nachvollzieht, vom„Verstehen“ einer Zahlrenreihe, wenn jemand diese richtig fortsetzen kann usw. Zum zweiten hat Wilhelm Dilthey(1833—1911) eine Dichotomie zwischen„Verstehen“ und„Erklären“ als eigenständigen wissenschaftlichen Methoden behauptet, die die Diskussion, wie wir noch sehen werden, keineswegs erleichtert; denn Verstehen und Erklären sind, wie Stegmüller(1973, S.24—26) gezeigt hat, zwei außerordentlich vielseitige Begriffe, deren Bedeutungsinhalte sich deutlich überschneiden. Zum dritten muß man sorgfältig unterscheiden zwischen Verstehen als Methode alltäglicher Kommunikation und Interaktion und Verstehen im Kontext wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung; denn in Forschung und Praxis stellen sich, wie noch zu zeigen sein wird, die Möglichkeiten und Grenzen Einfühlenden Verstehens unterschiedlich dar.
In dieser Arbeit werden wir uns nicht mit den vielen möglichen Varianten und Facetten des Verstehensbegriffs befas
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1991