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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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sen, sondern uns auf das Verstehen und Erklären von menschlichem Verhalten in alltäglichen Interaktionen konzentrie­ren, einem Anwendungsbereich von Ver­stehen, dem aus sonderpädagogischer Sicht unmittelbare Bedeutung zukommt. Wir werden die Thematik in vier Schrit­ten erarbeiten und an Beispielen bele­gen: In einem ersten Schritt werden wir kurz betrachten, welche Bedeutung dem Verstehen als Methode in der geisteswis­senschaftlichen Pädagogik Diltheys zu­kam. In einem zweiten Schritt werden wir die Methode des Verstehens an ei­nem einfachen alltagspraktischen Beispiel explizieren. In einem dritten Schritt werden wir erläutern, warum wir die Methode des Verstehens für eine zentrale Methode der sonderpädagogischen Praxis halten, und im vierten Schritt werden wir schließlich begründen, wo die Gren­zen des Verstehens im Kontext wissen­schaftlicher Erkenntnisgewinnung zu ziehen sind und warum die traditionelle Gegenüberstellung von Verstehen und Erklären, von geisteswissenschaftlicher, humanistischer, ganzheitlicher Pädagogik einerseits und naturwissenschaftlicher, analytischer, empirischer Pädagogik an­dererseits in einer zeitgemäßen sonder­pädagogischen Forschung überwunden werden muß,

Diltheys folgenreiche Wissenschaftsauffassung

Um die Jahrhundertwende sahen es die führenden Pädagogen ihrer Zeit als ihre vorrangige Aufgabe an, die Pädagogik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin zu konstituieren und zu konsolidieren. Dazu war zum einen nötig, die Pädagogik aus ihren traditionellen Abhängigkeiten von der Philosophie und der Theologie zu lösen, zum anderen durfte die Päd­agogik auf dem Wege zur Realwissen­schaft nicht einem reduktionistischen Empirismus folgen, weil dann bedeut­same Sinnbezüge aus dem Blick zu gera­ten und sich die Forscher in voreiligen Elementarisierungen zu verlieren dro­hen. Wilhelm Dilthey(18331911), ein Schüler Schleiermachers, bemühte sich

Franz B. Wember*

in zahlreichen Schriften, die wissen­schaftstheoretische Position der Päd­agogik zwischen Spekulation und Re­duktion zu bestimmen und ordnete die Pädagogik den Geisteswissenschaften zu, die er von den Naturwissenschaften ebenso abhob wie von der Philosophie und Theologie.

Die Pädagogik als Wissenschaft, schreibt Dilthey in seiner Einleitung in die Gei­steswissenschaften aus dem Jahre 1883, könne nicht als Teil der Metaphysik auf­gefaßt werden, weil letztere spekulativ verfahre, ihre Erkenntnisse nicht in der menschlichen Erfahrung begründe und folglich nur scheinbare Erkenntnisse lie­fern könne:Hinter diesem Schein frei­lich verhüllen sich Wahrheiten, welche auf dem Erfahrungsstandpunkt der Geistes­wissenschaften in angemessener Form zum Ausdruck gelangen, schreibt Dilthey(1883/1959, S. 410) und stellt fest(S. XVII):Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft, aber alle Erfah­rung hat ihren ursprünglichen Zusam­menhang und ihre hierdurch bestimmte Geltung in den Bedingungen unseres Be­wußtseins, innerhalb dessen sie auftritt, in dem Ganzen unserer Natur. Für Dilthey(ebd.) findet ausschließlich ‚in der inneren Erfahrung, in der Tatsache des Bewußtseins geisteswissenschaftli­ches Denken und damit die Pädagogik einen festen Untergrund, so daß er die Lösungsvorschläge der Französischen Po­sitivisten im Gefolge Alexandre. Comtes ebenso ablehnt wie die der Englischen Empiristen im Gefolge John Stuart Mills, die seines Erachtens die Wirklichkeit ;»+++ verstümmeln, um sie den Begriffen und Methoden der Naturwissenschaften anzupassen(Dilthey, 1959, S. XVII). Man dürfe, so Dilthey, pädagogische Vor­gänge nicht voreilig elementarisieren und reduktiv erklären, indem man z.B. auf physiologische Annahmen rekurriere (Dilthey, 1894/1964), sondern müsse die Sinnbezüge einer pädagogischen Gesamt­situation ebenso berücksichtigen wie die aktiven Bemühungen um Sinnfindung der am pädagogischen Geschehen Beteilig­ten. Pädagogik ist nach geisteswissen­schaftlicher Auffassung eine wissen­schaftliche Disziplin, welche ,,... die Erziehungswirklichkeit in ihren Alltags­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1991

Möglichkeiten und Grenzen des Einfühlenden Verstehens

vollzügen verstehend und auf Handeln bezogen aufzuklären versucht(Thiersch, 1983, S. 83). In dieser Definition taucht der Begriff des Verstehens wieder auf, und die zentrale Bedeutung dieses Be­griffs läßt sich klarer sehen, wenn wir Diltheys Unterscheidung von Natur­und Geisteswissenschaften etwas einge­hender betrachten.

Die Naturwissenschaften haben laut Dilthey von außen vorgegebene, natür­liche Phänomene zum Gegenstand, die den Menschen wesensfremd sind und die sie anhand elementarisierender, redukti­ver, experimentell überprüfter und im Idealfall mathematisch formulierter Gesetze zu erklären versuchen. Der Na­turwissenschaftler, der das Verhalten ei­ner Amöbe im Reagenzglas studiert, wird elementare Umweltreize bzw. Reiz­konstellationen und elementare Reak­tionsweisen der Amöbe beschreiben und klassifizieren, mögliche Wechselwirkun­gen zwischen Reizen und Reaktionen experimentell prüfen, die experimentell validierten Reiz-Reaktionsketten syste­matisch zusammenstellen, diese, falls möglich, mathematisch exakt formulie­ren und reduktiv erklären, zum Beispiel durch Rückgriff auf weniger komplexe Vorgänge interzellulärer Art, etwa durch Prozesse des biochemischen Austauschs, Eine Formulierung wieDie Amöbe reagiert auf Umweltänderungen, indem sie sich bemüht, ein Fließgleichgewicht zwischen sich und ihrem biochemischen Milieu herzustellen ist eine anthropo­zentrische Umschreibung und unter Bio­logen ausschließlich deskriptiv zu ver­stehen; damit ist aus naturwissenschaft­licher Sicht keineswegs gesagt, die Amö­be würde ihre Umwelt sinndeutend in­terpretieren oder intentionale Handlun­gen verfolgen, um bestimmte Ziele zu erreichen.

Den Naturwissenschaften, die reduktiv erklären, stellt Dilthey die Geisteswis­senschaften, die einfühlend verstehen, ge­genüber und die er auch‚moralisch-poli­tische Wissenschaften oder ‚,Wissen­schaften vom handelnden Menschen nannte, Geisteswissenschaften haben die menschliche Praxis zum Gegenstand, menschliches Handeln und Denken, menschliche Gesellschaft und Geschich­

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