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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz B. Wember*

te, in ihnen beschäftigt sich der Mensch mit sich selbst. Ein Pädagoge kann It. Dilthey erzieherische Prozesse nicht im naturwissenschaftlichen Sinne erklären, er muß sie verstehen. Damit ist gemeint: Man darf im Bereich der Pädagogik das Handeln der Akteure nicht losgelöst vom situativen Kontext, nicht isoliert von den Sinndeutungen und Interpretatio­nen der Aktuere und nicht losgelöst von deren Zielvorstellungen und aktiven Be­mühungen um Sinnfindung betrachten. Wenn man interagierende Menschen be­trachtet wie Amöben, müssen wichtige Erkenntnisse verborgen bleiben, denn man verzichtet auf die zentrale Erkennt­nismethode des Verstehens. Es reicht bei der Untersuchung menschlicher Praxis nämlich nicht, Reiz-Reaktionsketten zu katalogisieren, zu prüfen und auf elemen­tare Kausalannahmen zurückzuführen. Man muß vielmehr versuchen, Bedeu­tungen aufzudecken, den Sinn mensch­lichen Denkens und Handelns zu rekon­struieren(Herrmann, 1983), und dies ist möglich; denn der Mitmensch ist schließ­lich keine Amöbe, sondern dem Forscher wesensgleich. Der Forscher kann sich wenn auch mit Einschränkungen in sein Gegenüber heineinversetzen, kann versuchen, die Welt aus dessen Perspek­tive zu sehen, kann sich bemühen, des Anderen Weltdeutungen nachzuvollzie­hen und seine Handlungen als sinnvolle Problemlösungsversuche aufzufassen.

Verstehen als Methode alltäglicher Interaktion

Dilthey hielt das Verstehen für die zen­trale Methode geisteswissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung. Bevor wir diesen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit prü­fen können, wollen wir die Methode des Einfühlenden Verstehens zunächst in An­lehnung an Abel(1948/1953) an einem einfachen Beispiel konkretisieren. Dabei wollen wir diese Methode, die sich nach dem bisher Gesagten definieren läßt als der Versuch, sich einfühlend in den An­deren hineinzuversetzen, um seine sub­jektiven Interpretationen der Realität zu erkennen, seine persönlichen Motive

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Möglichkeiten und Grenzen des Einfühlenden Verstehens

zu erfahren und seine Handlungen als zielgerichtete Problemlösungsversuche zu begreifen, ausschließlich im Rahmen von alltäglichen zwischenmenschlichen Interaktionen diskutieren, bevor wir in den folgenden Abschnitten zu sonder­pädagogischen Anwendungsfragen über­gehen. Der Rückgriff auf einfache Bei­spiele und die schrittweise Erarbeitung einer elementaren Definition wird viel­leicht nicht allen Leserinnen und Lesern nötig scheinen, kann sich aber bei der Rezeption der später folgenden, auf son­derpädagogische Forschung und Praxis bezogenen Gedanken als hilfreich erwei­sen und vielleicht den Leserinnen und Lesern das Verstehen der Kontroverse um das Verstehen erleichtern, denen es ähnlich ergeht wie dem Verfasser dieser Zeilen: Die vor wenigen Jahren eröffnete Kontroverse um das Verstehen in der Sonderpädagogik ist nicht gerade leicht zu verstehen(vgl. Anstötz, 1985, 1986; Huppertz, 1986; Speck, 1987).

Was genau tun Sie, wenn Sie die Metho­de des Verstehens anwenden? Stellen Sie sich vor, Sie verbringen den Winterur­laub in einem Blockhaus im Hochgebir­ge. Sie stellen am Morgen fest, daß das Thermometer über Nacht von+2°C auf -10°C gefallen ist. Sie sehen, wie Ihr Nachbar, der im nächsten Blockhaus sitzt und gerade die Morgenzeitung liest, diese beiseite legt, nach draußen in den Holzschuppen geht, dort Holz hackt, nach wenigen Minuten mit einem Arm voller Holz zurückkommt und im Kamin seines Wohnzimmers ein Feuer entfacht, um schließlich wieder in seinem Sessel Platz zu nehmen und die Zeitungslektüre fortzusetzen. So weit die Fakten. Stellen Sie sich vor, ein Mitbewohner fragt sie, warum denn der Herr Nachbar schon am frühen morgen ungewohnte Aktivitäten zeige? Sie werden mögli­cherweise antworten, der Nachbar habe gefroren und, um sich zu wärmen, das Kaminfeuer angezündet. Diese Antwort ist bei naiver Betrachtung scheinbar eine faktische Antwort. Bei eingehender Be­trachtung zeigt sich jedoch, daß diese Antwort über die beobachteten Daten weit hinausgeht und gleich mehrere sub­jektive Schlüsse enthält. Sie haben aus dem Temperatursturz, den Sie vom

Thermometer abgelesen haben, gefol­gert, daß die Temperatur im Nachbar­haus ebenfalls deutlich abgesunken sein muß. Sie haben diese Ihre Folgerung als Stimulus(in Abb. 1: S;) interpretiert und mit einer vermuteten Reaktion auf seiten Ihres Nachbarn verbunden, der Empfindung von Kälte(), die Sie wiederum als vermuteten Stimulus(S,) für die beobachteten, von Ihnen als Reaktionen aufgefaßten Handlungen des Holzhackens(R2) und des Feuermachens (R3) interpretieren. Außerdem nehmen Sie an, daß diese Kette von Reizen und Reaktionen insgesamt einem übergrei­fenden Ziel(Z,) dient, der Reduktion von Kälteempfindung durch eine Er­höhung der Zimmertemperatur. War Ihre Antwort richtig?

Völlig sicher können Sie sich nicht sein, denn es gibt durchaus andere Erklärungs­möglichkeiten für das Verhalten Ihres Nachbarn. Es könnte z.B. sein, daß Ihr Nachbar gar nicht friert, sondern Gäste erwartet, denen er unbedingt den neuen Kamin vorführen möchte. Andererseits spricht einiges dafür, daß Ihre Antwort richtig ist, denn sie ist naheliegend, und sie kann richtig sein. Warum ist das so? Sie benutzen, gleich, ob implizit oder explizit, Kausalverbindungen physikali­scher Art, die in jedem Fall richtig sind, und Reiz-Reaktionsverbindungen psy­chologischer Art, die häufig richtig sind. Diese der gegebenen Antwort zugrunde­liegenden Gesetze bzw. Quasi-Gesetze lassen sich vereinfacht in sieben Regeln explizieren(vgl. Abb. 1):

Regel I: Sinkende Außentemperatur (U) reduziert in geschlossenen Räu­men die Raumtemperatur(F;).

Regel 2: Sinkende Raumtemperatur(F, = U2) reduziert die Körpertemperatur eines Menschen(F;).

Regel 2: Ein Absinken der Körpertem­peratur(F,=S;) wird von Menschen fast immer von Kälteempfindungen (R) begleitet.

Regel 4: Eine frierende Person() wird sich fast immer zum Ziel setzen, die­sen Zustand zu beenden(Z;).

Regel 5: Kaminfeuer(U3) erhöht in ge­schlossenen Räumen die Raumtem­peratur(F3).

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1991