Franz B. Wember*
Möglichkeiten und Grenzen des Einfühlenden Verstehens
Sinkende
Aussentemperatur u1
Sinkende Raumtemperatur
Sinkende Körpertemperatur 1
KÖNNE Sn———— 3 Beendigung der
HN
Hacken und Einholen von Brennholz
KÄME ndung
Anzünden eines Kaminfeuers R3= U3
Erhöhung der Raumtemperatur
F3= U4
Erhöhung der Körpertemperatur F
Beendigung der Kälteempfindung R4
Abb. 1: Interpunktion einer fiktiven Ereignissequenz nach Ursachen und Folgen(U/F) bzw. Reizen und Reaktionen(S/R) bei zielgerichteten Handlungen(Erläuterungen im Text).
Regel 6: Steigende Raumtemperatur (F3=U4) erhöht beim Menschen die Körpertemperatur(F4).
Regel 7: Steigende Körpertemperatur (Fı=S3) reduziert beim Menschen Kälteempfindungen(R4).
Abbildung 1 verdeutlicht die hier vorgelegte Erklärung unseres fiktiven Beispiels nochmals schematisch, indem sie die Gesamtsequenz der geschilderten Ereignisse nach Ursachen und Wirkun
gen bzw. Reizen und Reaktionen interpunktiert. Natürlich sind die oben formulierten sieben Regeln für sich allein genommen nicht hinreichend für eine vollständige Erklärung; es muß mindestens noch die Zusatzannahme getroffen werden, daß eine Person, die sich gemäß Regel 4 zum Ziel setzt, ihr Frieren zu beenden, willens und in der Lage ist, gezielte Handlungen zu initiieren und durchzuführen(hier R2 und Rz3), die geeignet sind, das gesetzte Ziel(hier Zı)
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1991
auch wirklich zu erreichen, Die hier vorgelegte Erklärung basiert also gleichzeitig auf einem naturwissenschaftlich geprägten Weltbild, das externe Faktoren als menschliches Verhalten determinierende Einflüsse postuliert, und einem Menschenbild, das von der Freiheit des Menschen zu bewußten und rationalen Entscheidungen ausgeht, beides orientierende Grundannahmen, die offensichtlich miteinander vereinbar sind und ohne die Versuche wissenschaftlichen Erklärens vermutlich gar nicht möglich wären. Trotzdem wird unschwer deutlich: Die oben gegebene, fiktive Antwort ist nicht notwendigerweise richtig, aber sie ist in jedem Fall eine mögliche richtige Antwort, die zudem naheliegend ist, weil sie große Plausibilität beanspruchen kann. Wie kommt das?
Die Plausibilität der hier vorgelegten Antwort ergibt sich aus ihrer Nähe zur alltäglichen menschlichen Erfahrung und aus ihrer Kongruenz mit derzeit für gültig befundenem menschlichem Wissen; denn die oben gegebene Antwort postuliert ausschließlich psychische Zustände, die uns Menschen bekannt und einfühlbar sind, benutzt physikalische Zusammenhänge, die uns Menschen als richtig bekannt sind, nimmt Handlungsziele an, die uns Menschen in vergleichbarer Situation vertraut sind, und hypostasiert Verbindungen zwischen Umweltreizen und Reaktionen, die uns Menschen ebenfalls bekannt und vorstellbar sind. Einfühlendes Verstehen als Methode führt folglich nicht notwendigerweise zu sicheren Erkenntnissen, wohl aber zu möglichen Antworten, die vielleicht in sichere Erkenntnisse einmünden.
Das fiktive Beispiel aus dem Winterurlaub, das wir in Anlehnung an Abel (1953) dargestellt und analysiert haben, wurde allein aus didaktischen Gründen gewählt; es sollte uns helfen, die Frage zu beantworten, wie denn die Methode des Verstehens funktioniere. Diese Frage können wir jetzt recht präzise beantworten: Verstehen als Methode der Erkenntnisgewinnung läßt sich in drei übergreifende Schritte gliedern, 1. der Beobachtung von Reizen, 2. der Beobachtung von Handlungen, und 3, der interpretativen Verbindung von Reizen und
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