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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz B. Wember*

Handlungen durch die Anwendung von Regeln, die als Gesetze bzw. als Quasi­Gesetze aufzufassen sind und denen in konkreten Situationen die Funktion von orientierenden Handlungsmaximen zu­kommt(vgl. Abel, 1953, S. 682). Der Methode des Verstehens entspricht folg­lich kein passives Ablesen von empiri­schen Daten, sie ist nicht Perzeption von Wirklichkeit, sondern hier bietet sich ein alter Begriff von Herbart an Apperzeption, die,...bewußte, ord­nende, in den Bedeutungszusammen­hang der Erfahrung einordnende Auf­nahme eines Erlebnis- oder Wahrneh­mungsinhalts(List, 1987, S. 735), wenngleich dies noch keine gesicherte Erkenntnis im wissenschaftlichen Sinne ist.

Einfühlendes Verstehen in der sonderpädagogischen Praxis

Im Alltag wenden wir die Methode des Verstehens, so wie sie gerade definiert wurde, ständig an; ständig deuten wir die Ereignisse um uns herum auf der Grundlage unserer persönlichen Erfah­rungen, nur daß uns das für gewöhnlich nicht bewußt wird, denn die Methode des Verstehens ist uns geläufig und ver­traut. Das kann in besonderen Situatio­nen. anders sein, nämlich dann, wenn wir auf Personen oder Ereignisse stoßen, die zu verstehen uns schwerfällt. In sol­chen Situationen wird einem plötzlich bewußt, daß der persönliche Erfahrungs­schatz möglicherweise zur sinnvollen Deutung des gerade Erlebten nicht aus­reicht, daß der Versuch zu verstehen zu scheitern droht. Solche Grenzerfahrun­gen wird mancher Sonderpädagoge in der alltäglichen Interaktion mit Behin­derten erleben, die, wenn sie gelingen soll, auf gegenseitiges Verstehen abzielt. Dieses Verstehen läßt sich nur erreichen, wenn sich beide Interaktionspartner darum bemühen, Dem relativ wenig be­hinderten, erwachsenen Sonderpädago­gen kommt bei diesem Bemühen meist besondere Bedeutung zu, weil er in aller Regel mächtigere Mittel zur Definition und Ausgestaltung der zwischenmensch­

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Möglichkeiten und Grenzen des Einfühlenden Verstehens

lichen Beziehung zur Verfügung hat als der relativ behinderte, heranwachsende Mensch, der dem Sonderpädagogen zur Förderung und Hilfe anvertraut ist. Die Beziehung zwischen einem Sonderpäd­agogen und einem behinderten Kind oder Jugendlichen ist folglich in den meisten Fällen asymmetrisch. Die zen­trale, weil einflußnehmende Rolle des Sonderpädagogen wird umso deutlicher, je deutlicher die Beziehung asymme­trisch angelegt ist, also z.B. in Fällen von vergleichsweise schweren Behinde­rungen, die es dem Behinderten nur in sehr eingeschränktem Maße möglich machen, die Beziehung zum Sonderpäd­agogen aktiv zu gestalten, so daß letzte­rem fast allein die Aufgaben der Defi­nition und Ausgestaltung der zwischen­menschlichen Beziehung zukommt. Wenn sich in solchen stark asymmetrischen Beziehungen dermächtige Sonderpäd­agoge nicht um Einfühlendes Verstehen seines behinderten Interaktionspartners bemüht, wird der Behinderte schnell vom Subjekt gemeinsamer Anstrengun­gen zum Objekt professioneller Maß­nahmen. Die zwischenmenschliche Be­ziehung droht, sich zu einer Einvernah­me des Behinderten zu wandeln, wenn dessen Intentionen, Emotionen und Be­dürfnisse nicht berücksichtigt werden. Aus einer helfenden Beziehung wird wie in der Sozialpädagogik neuerdings in Anlehnung an Habermas formuliert wird ein Prozeß derKolonialisie­rung des auf Hilfe Angewiesenen(Scar­bath, 1984). Dieser Prozeß kann in sel­tenen Fällen allerdings auch unter um­gekehrtem Vorzeichen ablaufen, näm­lich dann, wenn vermeintliche Schwäche zur gezielten Manipulation eines ver­meintlich stärkerenHelfers eingesetzt wird,

In der sonderpädagogischen Praxis ist, so läßt sich folgern, Einfühlendes Ver­stehen nötig, und praxisorientierte Bei­träge der letzten Jahre(vgl. Amman, 1987; Schumacher, 1985; 1987; Witt­stock, 1985) haben sich immer wieder bemüht zu zeigen, daß Einfühlendes Verstehen möglich ist. Der Sonderpäd­agoge beobachtet das ihm anvertraute Kind nicht als fremdartiges, intentions­loses, emotionsloses und situationsloses

Wesen, wie der Naturwissenschaftler eine Amöbe im Reagenzglas betrachten mag, sondern als wesensgleichen Mitmen­schen. Er wird sich immer wieder be­wußt machen, daß er in einem gemein­samen Handlungszusammenhang mit dem Kind steht, den er vorrangig gestal­tet und in dem er die Aufgabe hat, dem Kind möglichst viele Chancen zur Mit­gestaltung zu eröffnen. Der Sonderpäd­agoge wird folglich versuchen, die Hand­lungen des Kindes bewußt wahrzuneh­men und zu ordnen. Er wird die Hand­lungen des Kindes gemäß den situativen Bedingungen zu interpretieren suchen, wird sich bemühen, die Intentionen und Motive des Kindes einfühlend zu er­schließen und wird versuchen, übergrei­fende Handlungszusammenhänge und den subjektiven Sinn von Handlungen und Ereignissen zu rekonstruieren.

Der vorsichtig suchende, einfühlend ver­stehende Zugang zum behinderten Part­ner ist in sonderpädagogischen Interak­tionen immer wichtig, gleichviel, ob es sich um Fragen der kognitiven, affekti­ven oder sozialen Förderung handelt. Wenn ein Schüler bestimmte Mathema­tikaufgaben immer in der gleichen Wei­se falsch oder unvollständig löst, muß man versuchen zu verstehen, warum er die Aufgaben so löst, welchen fehlerhaf­ten Algorithmus er in systematischer Weise anwendet. Dem Schüler zu emp­fehlen, diese Aufgaben zu üben, bis er sie beherrsche, ist wenig hilfreich und wenig produktiv. Erst wenn der Lehrer versteht, warum seine systematischen Falschlösungen für den Schüler sinnvolle Lösungen darstellen, kann er ihm gezielte Hilfen anbieten, weswegen Mathematik­didaktiker wie Radatz(1980) und Ger­ster(1982) oder sonderpädagogische Diagnostiker wie Kornmann und Schäff­ler(1988) sowie Kutzer und Probst (1988) umfangreiche, auf empirische Forschung gestützte Analysen vorgenom­men haben, die dem Lehrer das Ver­stehen von typischen Rechenfehlern erleichtern können. Wenn ein Schüler Wörter mit bestimmten Lautsequenzen immer wieder falsch schreibt, muß man versuchen zu verstehen, warum er diese Wörter so schreibt, welche korrekturbe­dürftigen Laut-Zeichen-Korrespondenz­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1991