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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz B. Wember*

Möglichkeiten und Grenzen des Einfühlenden Verstehens

Le

regeln er systematisch anwendet. Dem Schüler zu empfehlen, die Wörter zu üben, bis er sie beherrsche, ist auch in diesem Fall wenig förderlich. Erst wenn der Lehrer versteht, warum seine syste­matischen Falschlösungen für den Schü­ler innerhalb seines subjektiven Systems von orthografischen Regeln sinnvolle Lösungen darstellen, kann er gezielte Hilfen anbieten, weswegen das Auszäh­len von Fehlern in neueren psycholingu­istisch bzw. förderdiagnostisch orien­tierten Konzeptionen durch differen­zierte Fehleranalysen ersetzt wird, die meist auf umfangreiche empirische For­schungsprogramme zurückgehen(vgl. z.B. Brügelmann, 1986; Probst, 1985; 1987; Scheerer-Neumann, 1987; Wen­deler, 1989). Wenn ein Schüler immer wieder in bestimmten Situationen in Tränen ausbricht, muß man versuchen zu verstehen, warum das so ist und wie er sich dabei fühlt. Einfach zu sagen, er solle sich zusammenreißen, es gäbe nichts, wovor er sich fürchten müsse, wird wenig nützen. Erst wenn der Leh­rer versteht, welche spezifischen situati­ven Bedingungen Angst und Furcht aus­lösen, kann er zukünftige Situationen in gezielter Weise umgestalten und versu­chen, in gemeinsamen Gesprächen und durch gemeinsame Erlebnisse den Schü­ler bei der Überwindung seiner Angst helfend zu begleiten, weswegen Ergeb­nisse der modernen Angstforschung durchaus von sonderpädagogischer Rele­vanz sein können. Wenn ein Schüler im­mer wieder in bestimmten Situationen Mitschüler bis hin zu körperlichen Ver­letzungen prügelt oder seine Aggressio­nen in verletzender Weise gegen sich selbst richtet, muß man versuchen zu verstehen, warum er dies tut. Erst wenn der Lehrer begreift, welche situativen Aspekte den Schüler wann in aggressiver Weise erregen, kann er entsprechende Vor­sorgemaßnahmen ergreifen. Erst wenn er versteht, warum und inwiefern das Prügeln anderer oder die Selbstverlet­zung für den Schüler sinnvolle und ir­gendwie positiv erlebte Handlungswei­sen sind, kann er ihm gezielt helfen, alternative Möglichkeiten der Aggres­sionsbewältigung zu finden.

Diese wenigen Beispiele machen zum ei­

nen deutlich, daß der Methode des Ein­fühlenden Verstehens in nahezu allen Be­reichen der sonderpädagogischen Praxis große Bedeutung zukommt. Zum ande­ren wird klar, daß die Kenntnis von Er­gebnissen empirischer Forschung einfüh­lendes Verstehen nicht erschwert, wie man aufgrund der Diltheyschen Dicho­tomie glauben könnte, sondern erleich­tert. Einfühlendes Verstehen ist fast im­mer notwendige, aber niemals hinrei­chende Voraussetzung für wirksame Hil­fe; denn schon bei der Diagnose von z.B. Rechtschreibfehlern kommt man ohne differenzierte Fachkenntnis nicht zu­recht, und wenn einer differenzierten und präzisen Diagnose differenzierte und effektive Interventionen folgen sollen, wird auch dies häufig nicht ohne um­fangreiche und valide Fachkenntnisse zu realisieren sein. Solche Fachkenntnisse erwirbt sich jeder Sonderpädagoge zum einen durch Reflexion der eigenen Praxis, zum anderen durch Studium und Weiterbildung; denn differenzierte und auf ihre Gültigkeit geprüfte Fachkennt­nisse resultieren in aller Regel aus empi­rischer Forschung, die folglich nicht in Konkurrenz zum Verstehen stehen kann, sondern deren häufig notwen­dige Ergänzung darstellt. Dieser Ge­danke läßt sich vertiefen, wenn wir uns fragen, wo denn die Gefahren und Gren­zen des Einfühlenden Verstehens liegen. Die Gefahr des Verstehens liegt nämlich in der Verführung zur Macht begründet, die Grenzen liegen im wesentlichen in der Person des Verstehen suchenden Son­derpädagogen begründet und in dessen fachlichen Kenntnissen.

Gefahren und Grenzen des Einfühlenden Verstehens

Asymmetrische interpersonelle Bezie­hungen sind, wie eingangs des letzten Kapitels gezeigt, Beziehungen mit Macht­gefälle. Wenn in solch einer Beziehung der Sonderpädagoge den Behinderten zu verstehen sucht, droht vor allem, wenn der Behinderte nicht über reziproke Antwortmöglichkeiten verfügt, um etwa an ihn herangetragene Mißverständnisse

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1991

zu korrigieren eine einseitige Verein­nahmung des Behinderten. Anstötz, der 1985 eine Kontroverse um das Verstehen in der Geistigbehindertenpädagogik er­öffnet hat, hat zu Recht auf die Gefahr der Selbstgefälligkeit bei manchen Son­derpädagogen hingewiesen, die glauben, überden Akt des Einfühlens Erkennt­nisse vonuntrüglicher Gewißheit(An­stötz, 1985, S.470) zu erreichen, die sich einbilden, sie und nur sie wüßten, was der Geistigbehinderte... Wirklich fühle, wünsche, empfinde etc.(ebd.). Anstötz verweist warnend darauf(ebd.), +... daß die Einspruchs- und Korrektur­möglichkeiten hierzu von seiten des Gei­stigbehinderten verhältnismäßig gering sind und mit zunehmender Schwere der Behinderung noch geringer werden.

In ähnlicher Weise begründet auch der Sozialpädagoge Thiersch, der anders als Anstötz in der Tradition geistes­wissenschaftlicher Pädagogik steht, sein Unbehagen am Verstehen(Thiersch, 1984, S. 15), wenn er schreibt(S. 27): Verstehen ist immer auch Versuchung zur Macht, zur Macht dessen, der ver­steht, über den, der verstanden wird. Die­ses Moment liegt schon im Akt des Ver­stehens, in der Tatsache, daß ein Pro­blem so als Problem definiert wird, daß es auf die Anstrengungen des Verste­hens angewiesen ist. DerZugriff des Verstehens, so Thiersch weiter(1984, S.25), kann auch eineForm des Stig­matisierens sein:Verstehen als Macht wird besonders evident da, wo definierte Unterlegenheit konstitutiv ist für Ver­stehen, also in der spezifischen Verste­hensstruktur des therapeutischen Ver­stehens von Krankheit und in der spezi­fischen Verstehensstruktur im pädagogi­schen Umgang.

Der Verführung zur Macht muß jeder einzelne Sonderpädagoge durch bewußte ethische Besinnung und aufmerksame Selbstkritik wiederstehen um sicherzu­stellen, daß Einfühlendes Verstehen mög­lichst nie von etikettierender und stig­matisierender, sondern möglichst immer vonfördernd-entwickelnder Absicht bestimmt ist(Scarbath, 1984, S. 11). Zum anderen ist notwendig, daß sich der Sonderpädagoge stets der Fehlbarkeit seiner Verstehensversuche bewußt ist

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