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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz B. Wember*

Möglichkeiten und Grenzen des Einfühlenden Verstehens

und sich stets offenhält für mögliche Korrekturversuche von seiten des behin­derten Interaktionspartners. Dies fällt laut Hiller(1988, S. 332) Sonderpäd­agogen nicht immer leicht:Dialogfä­higkeit und-bereitschaft haben zur Vor­aussetzung, daß man in der Lage ist, die eigenen Wertvorstellungen und Überzeu­gungen in Frage stellen zu lassen. Lehrer, die von berufswegen mit der Definition und Durchsetzung von erwünschtem Verhalten befaßt sind, tun sich damit besonders schwer.

Im Zitat von Hiller stoßen wir auf die erste Grenze Einfühlenden Verstehens, auf die Besonderheiten der Person des Verstehen suchenden Sonderpädagogen. Das Verstehen eines Anderen wird allein auf der Basis von kognitiven Kenntnis­sen nur selten gelingen, es baut fast im­mer auch auf den eigenen Erfahrungen auf. Verstehendes Erkennen hat also immer höchst subjektive Momente und wird dann scheitern, wenn die Selbster­kenntnis zur Fremderkenntnis nicht aus­reicht, wenn die persönliche Biografie und die Wertvorstellungen der eigenen Sozialkultur einem Verstehen des Ande­ren im Wege stehen(Hiller, 1988, S. 326), wenn die eigene emotionale Empfind­samkeit nicht reicht, bestimmte Emotio­nen des Anderen nachzufühlen. Kurzum: Wenn Behinderte die Aussagen von Fach­wissenschaftlern gelegentlich anzweifeln mit der Begründung, als Nichtbehinderte könnten diese die Wirklichkeit Behin­derter nicht wirklich begreifen(Speck, 1988, S. 59), formulieren sie mangelndes Vertrauen in die subjektiven Anteile Ein­fühlenden Verstehens. Da die jeweils per­sönliche Lebenserfahrung eines Sonder­pädagogen notwendigerweise begrenzt ist, nie abgeschlossen und nie endgültig und allgemeinverbindlich sein kann, sind +.. keine endgültigen Aussagen über die Wirklichkeit z.B. behinderter Men­schen möglich(Speck, 1988, S. 61). Das subjektive Bewußtsein des Individuums ist nicht der feste Untergrund, von dem Dilthey(1959, S. 410) gesprochen hat, sondern eher unsicheres Gelände: Wir können einfühlend verstehend zu we­sentlichen Erkenntnissen gelangen, aber wir können uns der Gültigkeit unserer Erkenntnisse nie sicher sein.

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Wenn also, wie gerade gesehen, das Be­wußtsein des einzelnen Sonderpädago­gen, seine Empfindsamkeit und seine Möglichkeiten, sich in andere hineinzu­versetzen, die erste Grenze für Einfüh­lendes Verstehen setzt, ist zu fragen, aus welchen Quellen sich das Bewußtsein eines Sonderpädagogen speist und wie es zu Bewußtseinserweiterungen kommen kann. Hier lassen sich mindestens zwei Quellen angeben:

1. Das Bewußtsein eines Sonderpäd­agogen ist zum einen Ergebnis seiner Bio­grafie, seiner persönlichen Art und Weise der Erlebnisverarbeitung und seiner im Verlaufe der beruflichen Tätigkeit ge­wonnenen Erfahrung durch reflektierte Praxis. Praktische sonderpädagogische Arbeit ist deswegen immer unweigerlich mit der Person des agierenden Sonder­pädagogen verknüpft, mit seiner Lebens­erfahrung im allgemeinen und mit seiner professionellen Erfahrung im besonde­ren, wobei die drei konstituierenden Ele­mente, Person, Lebenserfahrung und Praxiserfahrung, zum Glück nicht sta­tisch, sondern dynamisch sind; sie lie­gen nicht fest, sondern sie können ent­wickelt werden. Bei der zielgerichteten Erweiterung des eigenen Bewußtseins bietet sich daher zunächst die Methode an, durch selbstkritische Reflexion des eigenen Verhaltens und praktischen Han­delns eventuelle Fixierungen und Fehl­schlüsse zu reduzieren,

2. Das Bewußtsein eines Sonderpäd­agogen ist zum anderen abhängig von seinem berufsrelevanten Fachwissen; denn die Fachkenntnisse eines Sonder­pädagogen begrenzen oft genug seine Möglichkeiten, sich in ein behindertes Kind einfühlend hineinversetzen zu kön­nen, die besonderen Probleme dieses Kindes erkennen und verstehen zu kön­nen. Dieser Zusammenhang von Wissen und Verstehen, genauer von Kenntnis­sen und Verstehensmöglichkeiten, kam bereits in den 0.g. Beispielen zum Aus­druck. Eine verstehende, pädagogisch hilfreiche Analyse der Rechenfehler eines zur Förderung anvertrauten Kin­des ist nur möglich, wenn der Sonder­pädagoge über differenzierte und fun­dierte Fachkenntnisse in bezug auf mög­

liche Rechenfehler und mögliche Fehler­algorithmen verfügt. Eine verstehende, pädagogisch hilfreiche Analyse der ag­gressiven Konfliktlösungsversuche eines Kindes ist nur möglich, wenn der Son­derpädagoge über differenzierte Kennt­nisse hinsichtlich möglicher Verzerrun­gen in der interpersonellen Wahrneh­mung und hinsichtlich mißglückter Stra­tegien der Identitätsfindung verfügt. Ge­zielte und wirksame Interventionen zur Korrektur solcher Fehleralgorithmen oder zur Hilfe bei der Identitätsentwick­lung dürften ebenfalls nur in seltenen Fällen von praktizierenden Sonderpäd­agogen spontan erfunden werden. In aller Regel wird den Kindern weitaus effek­tiver geholfen, deren Lehrerinnen und Lehrer über einschlägiges Fachwissen verfügen, so daß sich als zweite Methode der Erweiterung der Verstehensmöglich­keiten die Erweiterung und Intensivie­rung relevanter Fachkenntnisse anbietet.

Fazit: Professionelle Aus-, Fort- und Weiterbildung muß in der Sonderpäd­agogik als Praxisdisziplin und als Wissen­schaft einen hohen Stellenwert haben und eine hohe Qualität erreichen. Un­sere Analyse des Einfühlenden Verste­hens hat uns zu der Einsicht geführt, daß empirischer Forschung auch und gerade in einereinfühlend verstehen­den Sonderpädagogik große Relevanz zukommt, nämlich zum einen als Mit­tel der analytischen Prüfung und nöti­genfalls Korrektur von verstehend ge­wonnenen Erkenntnissen, zum anderen als Mittel der Gewinnung von wissen­schaftlich gesicherten Einsichten in funktionale Bedingungszusammenhänge, die in der Praxis zu nutzen sind und deren Kenntnis dem praktisch tätigen Sonderpädagogen Einfühlendes Verste­hen oft erst ermöglicht. Bleibt noch die Frage zu klären, ob Einfühlendes Ver­stehen auch als brauchbare Forschungs­methode gelten kann.

Einfühlendes Verstehen in der sonderpädagogischen Forschung

Geisteswissenschaftler, die in der Tradi­tion Diltheys stehen, erheben in der wis­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1991

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