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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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senschaftstheoretischen Diskussion im­mer wieder Autonomieansprüche, indem sie behaupten, einen besonderen For­schungsgegenstand nämlich mensch­liche Praxis zu haben und diesen mit einer besonderen nämlich verstehen­den Methodologie zu untersuchen, Des weiteren wird gewöhnlich argumen­tiert, nur diese Methodologie sei dem Forschungsgegenstand angemessen und häufig wird sogar behauptet, mit ver­stehenden Methoden ließen sich Ergeb­nisse von besonderer Qualität erzielen. Wir wollen diese Ansprüche aus der Sicht der Kritisch-rationalistischen Wis­senschaftstheorie(Albert, 1970) prüfen um festzustellen, welche Rolle dem Ein­fühlenden Verstehen als Forschungs­methode in einer praxisbezogenen, em­pirisch vorgehenden Sonderpädagogik, wie sie von Bleidick(1985), Kanter (1985) oder Klauer(1980) konzipiert wird, zukommt.

Im letzten Abschnitt wurde bereits ge­zeigt, daß Einfühlendes Verstehen not­wendigerweise mit subjektiven Interpre­tationen verknüpft ist, so daß diese Me­thode in den subjektiven Möglichkeiten des Verstehen Suchenden ihre objekti­ven Grenzen findet. Daraus folgt, daß verstehend gewonnene Erkenntnisse nie sichere Erkenntnisse sein können, son­dern immer fragwürdige Erkenntnisse sein müssen. Sie sind, falls sorgfältig ge­arbeitet wurde, deshalb keineswegs un­wissenschaftlich(vgl. Frey, 1970), ge­nießen jedoch ebenso wie die Ergebnisse anderer wissenschaftlicher Erkenntnis­bemühungen lediglich hypothetischen Status, der auf weitere kritische und möglichst objektive, d.h, intersubjektiv kontrollierbare, Prüfungen verweist(vgl. Abel, 1953, S. 684687). Zu Recht hat deshalb Kanter(1979) in der Sonderpäd­agogik permanente Kritik und realwis­senschaftliche Theorieprüfung gefordert, damit die Disziplin nicht, wie er es aus­gedrückt hat, inHeurismen erstarrt, in ungeprüften Behauptungen mehr oder minder persönlicher Provenienz. Diese Forderung ist umso mehr berechtigt, als sich Behinderte und Sonderpädagogen in asymmetrischen Handlungszusammen­hängen begegnen, so daß, wie gezeigt, die Gefahr einer einseitigen Interpreta­

Franz B, Wember*

tion und Einvernahme der Ereignisse durch den mächtigeren Interaktionspart­ner nie ganz auszuschließen ist(wobei, wie oben bereits angesprochen, durch­aus auch der Behinderte der vermeint­lich stärkere Interaktionspartner sein kann). Die intersubjektive Prüfung ver­stehend gewonnener Hypothesen ist jedoch ohne Methoden der klassischen empirischen Forschung nicht realisier­bar; denn es sind gerade diese Verfah­ren, die es erlauben, eine hypothetische Aussage auf faktische Geltung zu prü­fen, indem man sie gezielt mit Erfah­rungsdaten konfrontiert, so daß sie wenn entsprechende methodologische Regeln eingehalten werden zugleich streng und fair getestet werden(vgl. Wember, 1990).

Die Notwendigkeit empirischer For­schungsmethoden als Ergänzung ver­stehender Methoden ist nicht nur vom hypothetischen Status verstehend ge­wonnener Erkenntnisse her zu begrün­den, sie ergibt sich schon aus einer Analyse der Ziele und Ansprüche Ein­fühlenden Verstehens selbst. Geisteswis­senschaftliche Pädagogik, so haben wir weiter oben Hans Thiersch(1983, S. 83) zitiert, wolle die Erziehungswirklichkeit auf Handeln bezogen aufklären. Die­ser emanzipatorisch-aufklärerische An­spruch, der sich pointiert formuliert darin zeigt, daß die Wissenschaftler die Praxis und die Praktiker besser verste­hen lernen wollen als diese sich selbst und ihre Handlungen verstehen, läßt sich ohne empirische Forschung gar nicht einlösen; denn dieser Anspruch läuft auf die Forderung hinaus, daß die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft­ler versuchen, ‚,... die unbewußten Momente des pädagogischen Alltags den in ihm Handelnden zu entschlüsseln (Dießenbacher& Müller, 1984, S. 1257). Letzteres kann jedoch unter anderem nur dann gelingen, wenn man auf dem Wege der empirisch-analytischen For­schung objektive Gründe für pädagogi­sches Handeln aufdeckt, Gründe, die dem handelnden Subjekt bislang gar nicht bewußt waren.

Die oft übersehene, aufklärerische Funk­tion empirischer Forschung in der Päd­agogik läßt sich an einem einfachen Bei­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1991

Möglichkeiten und Grenzen des Einfühlenden Verstehens

spiel veranschaulichen: Im Gefolge der Arbeiten von B.F. Skinner, der nach­weisen konnte, daß menschliches Ver­halten von Verstärkungskontingenzen systematisch kontrolliert wird und sich durch planvollen Einsatz solcher Kon­tingenzen gezielt verändern läßt, wurde die Frage nach der Freiheit und Würde des Menschen aufgeworfen. Von einigen Kritikern wurde behauptet, behaviori­stische Forschung im Sinne Skinners führe zu einer Entmündigung und tota­len Kontrolle des Menschen und müsse folglich unterbleiben. Aber das Gegen­teil dürfte der Fall sein: Wenn wir die empirische Erforschung von Verstär­kungsplänen unterlassen, verlieren diese sollten sie tatsächlich vorhanden sein deswegen keinesfalls an faktischer Wirk­samkeit, sondern beeinflussen nach wie vor menschliches Verhalten, wenn auch unerkannt. Wenn wir die Augen vor sol­chen überwiegend unterhalb der be­wußten Wahrnehmungsschwelle liegen­den Ursachen für unser Verhalten ver­schließen, verschwinden diese ja deshalb nicht aus unserem Leben. Nur durch die systematische empirische Erforschung solcher Ursachen kann man diese in das menschliche Bewußtsein rücken, nur wenn man über valide Kenntnisse über Verstärkungspläne und deren Auswir­kungen verfügt, kann man praktisch tätige Sonderpädagogen über diese ob­jektiven Ursachen subjektiven Verhal­tens aufklären und ihnen unter Umstän­den sogar Möglichkeiten aufzeigen, wie sich die systematischen Zusammenhänge zwischen Verhalten und seinen Kontin­genzen positiv zum Wohle der anvertrau­ten Kinder nutzen lassen(vgl. Wember, 1987).

Nun ließe sich einwenden, daß wir bis­lang nur eine recht elementare Form der verstehenden Methoden analysiert hät­ten, während man in den Geisteswissen­schaften eine differenzierte Methodik des Verstehens entwickelt habe, die den 0.g. Autonomieanspruch rechtfertige. In der Regel wird in diesem Zusammen­hang auf die sog.hermeneutische Me­thode oder Methode deshermeneuti­schen Zirkels verwiesen, die ursprüng­lich aus der theologischen Exegese der Heiligen Schrift stammt, von daher Ein­

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