Franz B. Wember*
Möglichkeiten und Grenzen des Einfühlenden Verstehens
zug in die Philologien, die Geschichtswissenschaft und die Literaturwissenschaft gehalten hat und nach und nach zu einer allgemeinen Lehre der Interpretation von Texten und schließlich der sinndeutenden Interpretation schlechthin weiterentwickelt wurde. Diese Methode besteht im Kern darin, daß ein Verstehen suchender Forscher an seinen Forschungsgegenstand mit einem gewissen Vorverständnis herangeht, dessen Gültigkeit er im Verlaufe seiner Untersuchung prüfen will und das er, falls er es für gültig befindet, expliziert, d.h. systematisch ausarbeitet. Für die hermeneutische Methode sind Regeln aufgestellt worden wie ‚,... den Sinn nur aus den Gegebenheiten zu erschließen, nichts von außen heranzubringen“(Frey, 1970, S. 31), das„Ganze... aus den Einzelheiten und die Einzelheiten aus dem Ganzen zu deuten“(S. 32) oder auf das Zusammenstimmen der Einzelergebnisse mit der Gesamtinterpretation zu achten(ebd.). Abgesehen davon, daß diese Regeln teils zirkulär sind, teils unerreichbare Neutralität des Forschers voraussetzen, läßt sich unschwer zeigen, daß die hermeneutische Methode nur eine besondere Form der hypothetischdeduktiven Methode ist, wie sie explizit den empirisch arbeitenden Wissenschaften zugrundegelegt wird. Was Göttner (1973) für die Literaturwissenschaft gezeigt hat, konnte Stegmüller(1973) für jegliche hermeneutische Erkenntnisbemühungen nachweisen: Das Vorverständnis des Hermeneutikers ist nichts anderes als eine Oberhypothese, aus der dieser im Verlaufe seiner Arbeit konkrete Unterhypothesen ableitet, deren Gültigkeit er prüft, indem er sie gemäß den gerade genannten Regeln mit dem vorliegenden Datenmaterial vergleicht.„Diese Regeln lassen nicht immer eine Nachprüfung im exakten Sinne zu“, schreibt Frey(1970, S. 32),„wenn auch durch manche derselben eine Art Falsifizierung möglich wird. Es ist darüber hinaus aber besonders wichtig, daß sie nur ermöglichen, verschiedene Deutungen miteinander zu vergleichen und Kriterien zu gewinnen, welche Deutung vermutlich zutreffender, richtiger ist.“
Hermeneutische Forschung ist keines
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wegs unwissenschaftlich, handelt es sich doch um den Versuch, in einem Wechselspiel von Vorverständnis und Datenanalyse ersteres zu prüfen bzw. zu explizieren. Solche Forschung ist empirischer Natur, denn sie basiert auf Erfahrung (Frey, 1970, S. 35). Sie kann informative und empirisch gehaltvolle Ergebnisse liefern, wenngleich sie nicht mit strengen Formen des hypothesentestenden Forschens verwechselt werden darf, wie sie innerhalb der analytischen Methodentradition ausgearbeitet worden sind. Auch der vergleichsweise entwikkelten Methode des hermeneutischen Zirkels kommt— ähnlich der eher alltagspraktischen Methode des Einfühlenden Verstehens— mehr hypothesenexplorierende als hypothesentestende Funktion zu, und dafür gibt es gute Gründe: Zum ersten sind die hermeneutischen Regeln (s.o0.) zu vage, als daß sie den subjektiven Interpretationsspielraum des Forschers einengen und zu einer weitgehend intersubjektiven Datenauswertung führen könnten. Frey(1970, S. 32) srpicht im obigen Zitat folglich zu recht von einer„Art Falsifikationismus“. Zum zweiten sind die hermeneutisch gewonnenen Ergebnisse häufig(wenngleich nicht immer, s.u.) zwar nachprüfbar, denn der eine Forscher kann versuchen, die Folgerungen eines anderen Forschers kritisch nachzuvollziehen, auf Stimmigkeit zu prüfen, mit den Daten, auf die jener sich interpretierend bezogen hat, zu vergleichen usw., diese Nachprüfbarkeit stößt jedoch an prinzipielle Grenzen:
1. Oft beziehen sich hermeneutisch ge
wonnene Erkenntnisse auf flüchtige Ereignisse, von denen keine bleibenden Protokolle angefertigt wurden. In solchen Fällen gibt es keine Daten, sondern nur Interpretationen, die sich schlechterdings nicht prüfen lassen. Wenn ein Sonderpädagoge z.B. seine Interaktionen mit einem Schüler reflektierend „analysiert“ und daraus allgemeine Schlüsse zieht, so ist nicht feststellbar, ob diese Schlüsse gerechtfertigt sind, da andere Sonderpädagogen das Verhältnis von Ausgangsdaten und interpretierend gewonnenen„Erkenntnissen“ nicht kritisch prüfen können.
2. Auch wenn Daten vorliegen, kann sich die Prüfung hermeneutisch gewonnener Erkenntnisse ausgesprochen schwierig gestalten; denn wer hermeneutisch arbeitet, konstituiert durch sein Vorvorständnis häufig erst die Daten, d.h. es gibt keine klare Trennung zwischen Daten, Interpretationen und Vorverständnis. Dies läßt sich am Beispiel der psychoanalytischen Interpretation pädagogischer Vorgänge unschwer verdeutlichen: Wenn ein Sonderpädagoge eine Sequenz von Interaktionen zwischen einem behinderten Menschen und einem Helfer psychoanalytisch deutet, stellt er im Moment der Deutung erst die Daten her, indem er die Interaktionssequenz beispielsweise in Akte von Übertragung und Gegenübertragung interpunktiert. Sein psychoanalytisches Vorverständnis produziert die Daten und präformiert deren Interpretation. Zwar unterliegt der im Rahmen der empirisch-analytischen Methodenlehre arbeitende Wissenschaftler ebenfalls dem Problem, daß ungeprüftes Hintergrundwissen in die Forschung eingehen kann, aber methodische Regeln gebieten ihm hier, Hintergrundwissen und zu prüfendes Wissen sorgfältig zu trennen, die Verfahren der Datenkonstruktion offenzulegen und die Verfahren der Datenauswertung vorab zu bestimmen, während im Prozeß des hermeneutischen Zirkels alle diese Verfahren untrennbar verknüpft sind (vgl. Stegmüller, 1973).
3. Hermeneutisch gewonnene Erkenntnisse müssen, gerade weil Vorverständnis, Datenkonstruktion und Interpretation untrennbar verknüpft sind, immer unter Rückgriff auf die jeweilige Originaldatenbasis geprüft werden. In diesem Punkt befinden sich empirisch-analytisch arbeitende Wissenschaftler in einem forschungsstrategischen Vorteil, denn sie sind keineswegs an den begrenzten Satz von Originaldaten gebunden. Da hier alle Verfahren der Datenkonstruktion und -interpretation offengelegt werden müssen, kann ein empirisch arbeitender Forscher eine Studie, deren Ergebnisse er gewissermaßen„auf Herz und Nieren prüfen‘ will, einem äußerst strengen Test unterziehen, indem er die Studie
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1991