von Anfang an wiederholt und gänzlich neue Daten erhebt. Dabei ist es dem Forscher nicht nur möglich, die empirische Basis durch möglichst exakte Wiederholung der Originaluntersuchung zu verbreitern(direkte Replikation), sondern er kann sogar theoretische Zweifelsfälle zu entscheiden suchen, indem er bestimmte Versuchsmerkmale variiert und neue Daten gezielt unter verschiedenen Bedingungen erhebt(systematische Replikation). Wenn dies innerhalb einer Untersuchung geschieht, führt dies in der Regel zu einer faktoriell angelegten, kausal-komparativen oder experimentellen bzw. quasi-experimentellen Studie, wenn dies in einer Reihe von aufeinanderfolgenden Untersuchungen geschieht, spricht man von einem progressiven Forschungsprogramm(vgl. Wember, 1990).
Hermeneutische Forschungsmethoden erfreuen sich innerhalb der Sonderpädagogik gerade in jüngster Zeit zunehmender Beliebtheit, man vergleiche nur die Arbeit von Eberwein(1985) oder die Beiträge im vom gleichen Autor herausgegebenen Sammelband(Eberwein, 1987). Solche Methoden sind, so läßt sich folgern, in der Sonderpädagogik legitime Forschungsmethoden. Sie sind, man erinnere sich nur an Diltheys Postulat vom Ursprung der Geisteswissenschaften in der menschlichen Erfahrung(s.o.), elementare empirische Methoden, die einen direkten, aber vergleichsweise wenig kontrollierten Zugang zu interessierenden Phänomenen gestatten und informative Ergebnisse liefern können. Diesen Ergebnissen kommt jedoch lediglich hypothetischer Status zu und nicht etwa besondere Seinsqualität, zudem sich hermeneutische Methoden überhaupt kaum zum Testen, sehr wohl aber zum Explorieren wissenschaftlicher Hypothesen eignen dürften,
Zusammenfassung und Schlußfolgerungen
„Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir‘“ schrieb Dilthey 1894
Franz B. Wember*
(1964, S. 143) und führte mit diesem vielzitierten Satz eine folgenreiche Dichotomie zwischen Erklären und Verstehen in die damalige Methodendiskussion ein. Diese von Dilthey graduell gemeinte Unterscheidung(Apel, 1985), die sich gegen den Atomismus, Behaviorismus und Empirismus der Pädagogik und Psychologie des ausgehenden 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts richtete, erwies sich insofern als folgenreich, als daß noch heute, fast 100 Jahre später, in der Sonderpädagogik(und nicht nur dort) kontrovers diskutiert wird, ob die Disziplin durch Einfühlendes Verstehen vorankommt oder durch analytisches Erklären. Dies ist, so haben wir zu zeigen versucht, eine irreführende Alternative; denn die Sonderpädagogik kann in Forschung und Praxis nicht„entweder verstehend, oder erklärend‘“ verfahren, sondern sie muß sowohl verstehend als auch erklärend vorgehen. Verstehen und Erklären sind, wie Stegmüller(1973, S. 25) gezeigt hat, aufs engste verwandt: Man kann die Handlung eines Menschen verstehen, wenn man sich die subjektiven und objektiven Gründe für ihr Zustandekommen erklären kann. Folglich sollte in der Sonderpädagogik ebenso wie in der modernen Wissenschaftstheorie(Frey, 1970) oder in der modernen Psychologie (Laucken, 1976; Reusser, 1983) die irreführende Alternative fallengelassen und eine pluralistische Methodenkonzeption vertreten werden, in der klinisch-explorative Studien ebenso legitime Methoden der Erkenntnisgewinnung sind wie experimentelle und quasi-experimentelle Verfahren der Hypothesenprüfung. Mit solch einer offenen Methodenkonzeption, wie sie sich bereits bei von Bracken (1964) findet und vermehrt auch in zeitgenössischen Arbeiten zum Thema(z.B. Benkmann, 1989; Berbalk& Mutzeck, 1989; Kanter, 1985; 1986; Mutzeck, 1989; Speck, 1987; Wember, 1986; 1989) abzeichnet, ist keineswegs ein indifferenter Standpunkt zu verbinden. Es ist nämlich ganz und gar nicht beliebig, welche Methoden ein Forscher zur Beantwortung einer Frage einsetzt; die Art der Frage und der Stand des verfügbaren Wissens müssen die Wahl der Methode bestimmen(vgl. Wember, 1990). Man
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1991
Möglichkeiten und Grenzen des Einfühlenden Verstehens
darf nicht bei explorativen Fallstudien verharren aus Angst, die eigene Meinung könnte sich in strengeren Untersuchungen als falsch erweisen, man darf aber auch nicht voreilig Experimente durchführen, wenn das verfügbare Wissen eine rationale Versuchsplanung mangels Detailkenntnissen noch gar nicht zuläßt.
Sir Karl Raimund Popper, Nestor der modernen Wissenschaftstheorie, war bereits 1972 der Ansicht, das Herumreiten auf dem Unterschied zwischen Geistesund Naturwissenschaften sei lange in Mode gewesen, sei jedoch„nachgerade langweilig geworden“(Popper, 1972/ 1984, S. 192):„Beide wenden die Methode des Problemlösens, der Vermutung und Widerlegung an.“ Diese Position konnte in der vorliegenden Analyse für das Arbeitsgebiet der Sonderpädagogik bestätigt werden: Einfühlendes Verstehen und empirisch-analytisches Erklären sind, wie Speck(1987) dies ausgedrückt hat, keine konträren, sondern komplementäre Sichtweisen, sie schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander, weil objektive Ursachen zu subjektiven Beweggründen werden können und weil subjektive Gründe unter bestimmten Bedingungen als objektive Ursachen aufgefaßt werden können(vgl. Dießenbacher& Müller, 1984, S.1258—1260). Einerseits sollten wir heuristisch gewonnene Ergebnisse nicht voreilig als unwissenschaftlich abtun, denn klinisch-explorativen Fallstudien oder rein theoretischen Synthesen von vielen Einzelergebnissen, die oft erst in verstehender Perspektive ihren Sinn erhalten, kommt auch in einer empirisch arbeitenden Sonderpädagogik ein legitimer Platz zu. Andererseits kommt heuristischen Methoden eher hypothesenfindende als hypothesentestende Funktion zu, und diese Methoden legitimieren keine Autonomieansprüche oder gar Ansprüche auf besondere Erkenntnisqualitäten: Es gibt nicht zwei eigenständige Methodologien in der sonderpädagogischen Forschung, sondern nur verschiedene, mehr oder minder strenge Varianten der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung gemäß der hypothetisch-deduktiven Methode.,
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