Franz B. Wember
Möglichkeiten und Grenzen des Einfühlenden Verstehens
Abschließend sei zur behutsamen Einschätzung der hier vorgelegten Argumente, die vielleicht nur erste und nur Vorläufige Orientierungen in der vor einigen Jahren begonnenen Verstehensdebatte in der Sonderpädagogik sein können, vorsorglich auf vier Einschränkungen hingewiesen: Erstens haben wir die Frage nach Verstehen und Erklären hier nur in bezug auf die Sonderpädagogik diskutiert, sie als grundsätzliche philosophische Frage jedoch offengelassen; die einschlägige Debatte hat seit Dilthey Dutzende von Büchern hervorgebracht und wird sich in dieser Hinsicht vermutlich auch in Zukunft als produktiv erweisen(vgl. Apel, 1979; Orth, 1985). Es ist jedoch derzeit nicht absehbar, ob deshalb gleich eine neue Theorie der
Sonderpädagogik zu schreiben sein wird. Zweitens haben wir hier in Anlehnung an Abel(1953) eine Auffassung von Verstehen vertreten, die eng verwandt ist mit dem empirischen Wissenschaftsansatz und die folglich vorrangig von Vertretern des Kritischen Rationalismus’ vorgetragen, unter geisteswissenschaftlich orientierten Forscherinnen und Forschern jedoch durchaus kontrovers diskutiert wird(vgl. Apel, 1985). Drittens haben wir in dem Begriff des„Einfühlenden Verstehens‘“ affektive und kognitive Momente verknüpft, weil uns dies in bezug auf die Arbeit und Aufgabe des Sonderpädagogen richtig scheint, haben jedoch nicht die umfangreiche und differenziert geführte erkenntnistheoretische Diskussion referiert, ob Verstehen
denn nun vorrangig kognitiv oder vorrangig affektiv oder beides zugleich sei. Und viertens schließlich haben wir hier überhaupt recht pragmetisch argumentiert und nicht die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten von Erklären und Verstehen expliziert, die in der sehr umfänglichen erkenntnistheoretischen und methodologischen Literatur der letzten 100 Jahre vorgeschlagen wurden und bis heute kontrovers erörtert werden, auch und besonders in der Erziehungswissenschaft(vgl. Uhle, 1989). Auf diese Weise konnten wir— zugegeben— keine inhaltliche Vollständigkeit erreichen, haben aber— hoffentlich— an Verständlichkeit gewonnen. Schließlich ging es in dieser Arbeit um das Erklären des Verstehens!
Literatur
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