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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Christoph Anstötz*

Entgegnung auf die Stellungnahme von Schurad

agogen zu versetzen. Umso schwerer wiegt der Umstand, daß Schurad als einen von zwei Belegen meinen Aufsatz aus dem Jahre 1988 erwähnt, der nicht ein einziges Wort vom Töten Schwerst­behinderter enthält. Dort wird im Gegen­teil der Versuch einer rationalen Recht­fertigung der Erziehung Schwerstbehin­derter unternommen, und zwar auf der Basis des Präferenz-Utilitarismus. Wie jedem anderen auch steht es Schurad frei, diesen Versuch mit Argumenten zu kritisieren. Es steht ihm nicht frei, seine Vorbehalte mit unwahren Unter­stellungen zu untermauern und solche Aspekte von Gewicht zu unterschlagen, die seinen Vorbehalten entgegenstehen. Was nun meine These von dem Versäum­nis der Sonderpädagogik im Hinblick auf die Beachtung internationaler bzw. in­terdisziplinärer ethischer Grundlagendis­kussionen aus den letzten zwei bis drei Jahrzehnten betrifft, so stimmt Schurad (1990, 191) ihr prinzipiell zu. Er schreibt, daß meine diesbezügliche Behauptung für die Frage der Diskussion über ethische Grundwerte berechtigt sein mag. Um mehr geht es in der von ihm herausgegriffenen These auch nicht, die seiner Meinung nachbesonders zum Widerspruch(Schurad 1990, 190) her­ausfordert.

Alles was dann in der Stellungnahme von Schurad unter ‚1. Gegenargument sonst noch kommt, ist nicht mehr Ge­genstand meiner von ihm vorgestellten Behauptung. Wenn er im folgenden(und auch schon in seiner Einführung) unter Hinweis auf weitere Arbeiten von mir im­mer wieder den Eindruck zu erwecken versucht, daß es mir bzw. Tooley und Sin­ger um die Legitimierung des Tötens Schwerstbehinderter geht, so ist dieser un­glaubliche Mißgriff wenn überhaupt nur damit zu entschuldigen, daß er aus einer Sorge um das Wohl schwerstbehin­derter Menschen entstanden sein könnte. Darauf, daß mein erster Artikel zu die­ser Problematik die Stoßrichtung einer ethischen Legitimation der Erziehung Schwerstbehinderter verfolgt und zwar auf der Grundlage utilitaristischer Prin­zipien, habe ich schon hingewiesen, Auch in meinem von ihm ebenfalls zitierten Büchlein ‚Ethik und Behinde­

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rung(Anstötz 1990a) ist das für den vorliegenden Zusammenhang relevante Kapitel folgendermaßen überschrieben: Praktische Folgerungen: Schwerste(gei­stige) Behinderung, Euthanasie und Er­ziehung. Auch aus diesem Kontext nimmt Schurad nicht beide Aspekte, sondern wählt ausschließlich den Aspekt der Euthanasie und übergeht die mora­lische Begründung der Erziehung geistig schwerstbehinderter Menschen, die dort ausführlich entwickelt wird. Auf das Pro­blem der Stellvertreterschaft bei Lebe­wesen bezogen, die nur geringe Mög­lichkeiten besitzen, ihre Bedürfnisse, Ansprüche, Interessen zu artikulieren und gegenüber anderen zu behaupten, bleibt Schurads(1990, 191) Blickwin­kel letztlich auf den Aspekt des Tötens beschränkt:Von einer Stellvertretung im Sinne des Tötens derer, deren In­teressen(z.B. am Leben und Lernen) vertreten werden sollen, kann doch sicher nicht die Rede sein! Oder?, Diesen dis­kreditierend angelegten, rhetorischen Schlenker hätte Schurad sich und dem Leser ersparen können. Auf Seite 157 meines Büchleins steht die Antwort: Die Interessen schwerstbehinderter Menschen zu respektieren, würde dem­nach für den Sonderpädagogen zualler­erst und prinzipiell bedeuten, alles er­zieherisch Mögliche zu tun, um das Wohlergehen der ihm anvertrauten Men­schen in personaler und sozialer Hin­sicht zu befördern. Es bedeutet aber auch... zu respektieren, daß es in be­stimmten Grenzfällen des Lebens im Interesse eines schwerstgeschädigten Menschen(bzw. eines Lebewesens über­haupt) sein kann zu sterben, statt ge­zwungen zu werden, ein Leben unnö­tigen Leidens zu führen,

Zusammenfassend zu Schurads Kritik der ersten These ist festzustellen: Wenn er der Meinung ist, daß in der einschlä­gigen, internationalen und interdiszipli­nären Literatur zu findende Auffassun­gen zur Frage der Euthanasie falsch sind und aufgrund spezieller deutscher Er­fahrungen mit dem Nationalsozialismus korrigiert werden müssen, so ist dage­gen zunächst einmal gar nichts einzu­wenden. Allerdings läge darin meines Erachtens erst recht ein Grund für einen

Einstieg in die dort geführte ethische Grundlagendiskussion. Das gilt nicht nur für heute, das galt auch schon da­mals. Ich kann nicht sehen, wie die Tat­sache unterschiedlicher Auffassungen zur Frage der Euthanasie, zum Recht auf Leben oder, wie Schurad vielleicht hinzufügen würde, zur Frage der Er­ziehung Schwerstbehinderter etc., meine These einer 20jährigen Abstinenz der deutschsprachigen Sonderpädagogik im Hinblick auf die einschlägige moral­philosophische Literatur auf irgendeine sinnvolle Weise widerlegen sollte. Diese These also bleibt bestehen.

Zu 2)Der Personstatus der Schwerstbehinderten

Auch hier stellt Schurad(1990, 192) eine Auffassung voran, allerdings nicht im Original, sondern unglücklicherweise in einer von ihm bereits interpretierten und bewerteten Fassung:Der Person­begriff als moralischer Besitzstandsan­zeiger für Selbstbewußtsein, Rationali­tät, Zeit- und Raumbewußtsein u.v.m. leistet die eigentliche Argumentations­hilfe für die Forderung auf Tötung z.B. auch schwerstgeistigbehinderter Men­schen, die nämlich aus postuliertem Man­gel an Selbstbewußtsein zu Un­Personen erklärt werden, d.i. zu mensch­lichen Lebewesen ohne Personstatus, und damit für die ethisch legitimierte Tötung freigegeben werden, wo nicht andere, eher indirekte Gründe für ein gnädiges Lebenlassen greifen.

Während ich die erste Behauptung, mit der sich Schurad auseinandersetzt, in Hinblick auf ihre Authentizität akzep­tieren kann, ist das bei der nun zur Dis­kussion anstehenden Auffassung über den Personstatus Schwerstbehinderter nicht möglich, Das, was bei Schurad unter2. Argument zu finden ist und von der Zielsetzung seiner Stellungnahme her eine Beschreibung darstellen sollte, enthält wie gesagt bereits verschiedene Bewertungen mit eindeutig negativem Akzent. Das aber macht aus seiner ge­planten Aufteilungvon Argument(An­stötz) und Gegenargument(Schurad)

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1991