Erich Kurth& Uwe Streibhardt*
Längsschnittstudie bei lernbehinderten Kindern
Bei der kleinen Gruppe(20%) der Kinder, bei denen weder biologische noch soziale Belastungsfaktoren nachzuweisen waren(Dunkelziffer?), kann der Widerspruch zwischen den realtiv höheren IQ-Werten in der 5. und 8. Klasse und dem vorausgegangenen Schulversagen gegenwärtig nicht ausreichend aufgeklärt werden. Somit könnten insbesondere sozial-familiäre Belastungsfaktoren auch in mehr als 55% der Fälle vermutet werden.
Ergänzend wurden auch für die schulische Situation charakteristische Faktoren, wie Ausfall- und Vertretungsstunden wegen Krankheit der Lehrer, Berufsjahre usw. klassenweise berücksichtigt, außerdem wurden die 3 Herkunftsschulen unserer Schülerstichproben verglichen. Das Ergebnis entsprach nicht unseren Erwartungen— es gab keinen Zusammenhang dieser Faktoren zum durchschnittlichen Intelligenzniveau(IQ) der Klassen, jedoch wesentliche(sogar knapp statistisch signifikante) Differenzen zwischen den Schulen, die sich jedoch nicht im didaktischen Vorgehen (vorwiegend Frontalunterricht) unterschieden. Somit blieben Unterschiede in den Einzugsgebieten übrig: Die Schule mit dem sozial ungünstigsten Wohngebiet hat die Klasse mit den durchgängig besseren IQ-Mittelwerten! Hier ist also auf eine Diskrepanz zwischen schlechten Schul- und Anpassungsleistungen in der überweisenden Regelschule und vorhandenen geistigen Potenzen der Schüler zu schließen.
Diskussion und Schlußfolgerungen
Wie sicher sind unsere Längsschnittergebnisse? Zu diskutieren sind Bedeutung und Einfluß der im statistischen Norm
Literatur
Ammann, W.(1984). Schullaufbahn mit Umwegen— Rücküberweisungen aus der Sonderschule—. Oldenburg: Universität.
Basler, F. und Basler, H.D.(1973). Führt der Besuch einer Sonderschule für Lernbehinderte zu einer Erhöhung der Intelligenz?
(II) Z. Heilpäd. 24, S. 12-15.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 3,
bereich bei wiederholter Messung beobachtbaren„Regression zur Mitte“, d.h. eines gewissen Ausgleichs der Meßwerte. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß es sich bei unserer Stichprobe statistisch um eine Extremgruppe handelt, wäre allerdings mit eher einseitigen Ausgleichstendenzen zu rechnen. Wegen der hohen Korrelationen(siehe Tab. 4) dürften jedoch Meßfehler als Begründung ausscheiden. Inhaltlich wäre dabei die Hypothese eingeschlossen, daß die Lernbehinderten auch als„besondere“ Gruppe(aufgrund ihrer Entwicklungspotenzen) allgemeinen Trends folgen können. Die korrelativen Zusammenhänge zeigen, daß die Rangfolge der Ausgangswerte sich nicht grundsätzlich verändert, was auf die Bedeutung des im frühen Schulalter erreichten Entwicklungsstands hinweist.
Die von einem biopsychosozialen Rahmenmodell ausgehend erfolgten Bedingungsanalysen konnten Hinweise auf eine Häufung verschiedener Belastungsfaktoren in der Entwicklung der zumeist erst später als„intellektuell geschädigt“ (lernbehindert) diganostizierten Kinder nachweisen. Von entscheidender Bedeutung sind dabei die durch mehrere umfassende Längsschnittstudien nachgewie sene Kumulation von Belastungsfaktoren sowie die Kompensationsmöglichkeit in der menschlichen Entwicklung (Meyer-Probst und Teichmann 1984; Teichmann et al. 1986; Werner 1982), wie sie auch durch Studien zur Entwicklung von Adoptivkindern belegt wurden (Kurth 1988). Die von uns als wesentlich erachtete Verflechtung der Faktorengruppen reicht bekanntlich bis in die pränatale Phase, in der Lebensweise, Stress und emotionale Belastungen die weitere Entwicklung einschließlich des Geburtsverlaufes(z.B. Frühgeburt) mitbeeinflussen können(Werner 1982). Es
S. 451—460.
ist klar, daß eine rechtzeitige Erkennung der belastenden Faktoren für eine Förderung von Kompensationsprozessen unerläßlich ist.
Anknüpfend an unsere einleitenden Bemerkungen und dabei aufgeworfenen Fragen kommen wir zu einigen zusammenfassenden Schlußfolgerungen:
1. Aufgrund der vielfachen, in 4 Altersstufen erhobenen Testdaten, kann wohl— bei aller Vorsicht gegenüber Einzeldaten— auf die in dieser Stichprobe von lernbehinderten Schülern vorhandenen Entwicklungspotenzen, bei erheblicher interindividueller Variabilität, geschlossen werden. Demgemäß liegt die Zweckmäßigkeit einer Nutzung vielfältiger(integrativer) Förderungsmöglichkeiten sowie ergänzender Förderprogramme, wie sie in den westdeutschen Bundesländern gegenwärtig diskutiert und praktiziert werden(Masendorf und Klauer 1987; Lauth 1988; Klauer 1989), nahe.
2. Unsere Ergebnisse sprechen(ähnlich wie z.B. die von Becker und Mitarbeitern 1987 veröffentlichten) dafür, daß Entwicklungsverzögerung und hemmende Entwicklungsbedingungen bereits lange vor der Schulzeit vorliegen, so daß eine Frühförderung, die im Kindergartenalter fortgeführt wird, sehr wichtig ist, um günstige Voraussetzungen für die Förderung im Schulalter zu schaffen. Dabei sollte auch auf die grundsätzliche Bedeutung einer prophylaktischen Arbeit bei Eltern mit geringen Bildungsvoraussetzungen und mangelnder erzieherischer Erfahrung(z.B. auch bei sehr jungen Müttern) hingewiesen werden.
Basler, F.(1972). Führt der Besuch einer Sonderschule für Lernbehinderte zu einer Erhöhung der Intelligenz?(I) Z. Heilpäd. 23,
Becker, K.-D.(1987). Zur Genese und Phänomenologie physisch
psychischer Schädigungen im Kindesalter. Berichte Humboldt
Univ. Berlin 7, H. 5.
1991
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