Emil Schmalohr*
Metakognitive Instruktionsgespräche bei Leseschwierigkeiten
sondern bei visuellen und auditiven Wahrnehmungsdefiziten sowie bei Konzentrations- und Sprachdefiziten und schließlich bei den als zugrundeliegend gedachten Hirnfunktionsschwächen ‚z.B. einer organisch bedingten Richtungsunsicherheit. Es wird angenommen, durch eine Verbesserung dieser Voraussetzungen, z.B. durch ein vom Lesen unabhängiges Training der Wahrnehmungsdiffe renzierung, auf indirektem Wege auch eine Förderung der eigentlich gemeinten Lesefähigkeit zu erreichen. Solche indirekten Wege können so weit gehen, daß zur Behandlung einer Legasthenie mit Richtungsunsicherheit u.a. beruhigende Medikamente verabreicht werden. Die präskriptive Wende zur Instruktionspsychologie nimmt im zweiten Ansatz die Lesefähigkeit und ihre speziellen Komponenten sowie die mit deren Hilfe zu lösende Leseaufgabe selbst in den Blick. Leseschwierigkeiten gelten dann nicht mehr als allgemeine Fähigkeitsdefizite, sondern als Komponentendefizite in der Aneignungsstruktur der Leseaufgabe. Durch lernzielorientierte Aufgabenstellungen, die möglichst in der Form von motivierendem Lesematerial dargeboten werden, sucht der Lehrer die Komponentendefizite beim einzelnen Schüler auszugleichen und dadurch das Lesen unmittelbar zu fördern. Den direkten Zugang zur Lesefähigkeit hat als dritter Ansatz die kognitive Wende in der Instruktionspsychologie dadurch hervorgebracht, daß sie den Blick auf die inneren Vorgehensweisen des Lesers lenkt, auf seine Lesetätigkeit, seine Lesestrategien. In deren Licht stellen sich Leseschwierigkeiten als Strategiedefizite, als ein Mißlingen des Aufbaus angemessener persönlicher Lesestrategien dar. Wenn im vorliegenden Beitrag der dritte Ansatz verfolgt wird, so sollen damit die beiden anderen Ansätze nicht abgelehnt und außer Kraft gesetzt, sondern durch Bemühungen ergänzt werden, die über das Forschungsinteresse: hinaus von interessierten Lehrern in die Praxis ihres Förderunterrichts integriert worden sind und sich dort bewährt haben.
Die kognitive Wende hat vor allem im englischen Sprachraum eine Fülle von Veröffentlichungen zur Aneignung von
118
kognitiven Strategien auch beim Lesen hervorgerufen, in denen die Erklärung von Leseschwierigkeiten von Anfang an als besonderer Prüfstein gilt(vgl. LaBerge& Samuels 1974; Rumelhart 1977; Brown 1980; Stanovich 1980; Paris, Lipson& Wixson 1983; Baker& Brown 1984; Samuels& Kamil 1984; Ruddell& Speaker 1985; Beck& Carpenter 1986; Garner 1987; Wagner& Sternberg 1987). Neben die Dekodierungsstrategien treten in einem integrativen Ansatz die Verstehensstrategien und das Lernen aus Texten, vor allem metakognitive Komponenten des Wissens und der Steuerung. Leseschwierigkeiten werden dabei als Defizite in Dekodierungs- und Verstehensstrategien mit Anteilen u.a. an Merfähigkeitsstrategien und allgemeiner als Strategie-Ungleichgewicht oder kompensierbare Produktionsdefizite beim Gebrauch von Lesestrategien verstanden(vgl. Stanovich 1980; Short 1981; Morrison& Manis 1982; Ryan, Ledger, Short& Weed 1982; Garner 1983; Campione 1984; ForrestPressley& Waller 1984; Olson, Kliegl, Davidson& Foltz 1985; Wong 1985).
Konzeptplanung der Lesegespräche
In diesen Rahmen wird hier ein inzwischen 10jähriges Projekt„Metakognitive Instruktionsgespräche zur Behebung von Leseschwierigkeiten“ gestellt. Das Projekt knüpft einmal an eine„Komponentenanalyse der Lesefähigkeit‘ an und geht der Vermutung nach, daß der Lernende„kognitiv gesteuerte Handlungsmuster entwickeln muß, um die einzelnen Komponenten zu einem reibungslos funktionierenden Ablauf zu integrieren“ (Schmalohr 1979, S. 52). Zweitens werden in dem Ansatz Konzepte von Lesestrategien und Metakognitionen einschließlich Selbstinstruktionen im Zusammenhang mit subjektiven Theorien angewendet.
Die Arbeit begann mit der Erkundung von strategischen Handlungsmustern des Lesens, die vor Ort bei lernenden Schülern beobachtet werden sollten. Die Untersuchungsziele führten— unbeabsich
tigt— in eine Situation, in der ich dazu gebracht wurde, aus praktischen Erfordernissen das erste Lesegespräch zu führen. Während des Förderunterrichts in der Leseklinik einer Sonderschule beobachtete ich Schüler in ihren Vorgehensweisen, mit denen sie an Lesematerialien und die damit verbundenen Aufgaben herangingen, die der Lehrer nach seiner Einschätzung der Leseschwierigkeiten für sie ausgesucht hatte. Vor mir saß in einer Fünfergruppe der 12jährige Guido, dem der Lehrer an Hand von Lesematerial vergebens zu helfen versuchte, die richtig entzifferten Buchstabenlaute in das Wort mit seiner Bedeutung umzusetzen. Der Lehrer mußte in einer Schulleiterangelegenheit plötzlich den Raum verlassen und bat mich weiterzumachen. Mir war das Aussichtslose der Hilfe durch das Material aufgefallen, aber ich stand ziemlich ratlos da, was ich tun sollte, bis ich aus lauter Verzweiflung gewissermaßen den Spieß herumdrehte, indem mir die Frage entfuhr:„Hör mal Guido, wie machst Du das eigentlich ‚das Lesen?“
Später wurde mir klar, daß ich eine Frage wiederholt hatte, die wir in einer früheren Untersuchung Erstkläßlern gestellt hatten. Mit der Frage„Was machst Du denn, wenn Du ein Wort liest... Wie geht das Lesen eigentlich?‘‘ sollte die Wirkung unterschiedlicher Lehrmethoden erkundet werden(Schmalohr 1971, S. 171 f.). Die Kinder beschrieben in ihren Antworten tatsächlich ihr Lesen— je nach Lehrmethode verschieden— nach dem ganzheitlichen oder einzelheitlichen Vorgehen ihrer Lehrer. In dem neuen Zusammenhang der Lesegespräche interessierten bei dieser: Frage nun nicht mehr Lehrmethodeneffekte, sondern in erster Linie die individuellen Vorgehensweisen des Lesenden, seine Lesestrategien. Die Frage schaffte zunächst ‚einmal Distanz, und Guido ging nach einigem Zögern und Nachfragen auch bereitwillig darauf ein. Es entwickelte sich ein Gespräch über Guidos Vorgehensweisen, das in eine Selbstanleitung mündete. Leider habe ich den Wortlaut des Gesprächs nicht festgehalten, wie das später in Tonbandaufzeichnungen die Regel wurde. Auf die Stichworte, die ich mir damals notiert hatte,
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 3, 1991