Emil Schmalohr*
Metakognitive Instruktionsgespräche bei Leseschwierigkeiten
den verschiedenen Gruppen der Gesprächsleiterschulung zur Verbesserung der Gesprächsführung regelmäßig Anweisungen formuliert, die auf die„Ichweiß-nicht‘-Antworten bezogen waren. An erster Stelle wird empfohlen, dem Leser mehr Zeit für die Beantwortung zu lassen, was schwerer ist, als das zunächst scheint. Weiter wird als wichtig angesehen, die Fragen im Hinblick auf die Prozesse, die sich im Kopf abspielen, auf verschiedene Weise zu formulieren. Wenn die Fragestellung, die für jeden Leser anfangs ungewohnt ist, erst einmal verständlich gemacht wurde, kommt das Gespräch auch in Gang. Bei einer angemessenen Gesprächsführung gelingt das spätestens bei der Fehleranalyse anläßlich der Tonbandwiederholung der Leseprobe.
Eine Gesprächsführung, die der Aufklärung von„Ich-weiß-nicht‘“-Antworten besondere Beachtung schenkt, steht im Einklang mit einem Verständnis von Lernschwierigkeiten und Lernbehinderungen, das metakognitiven Komponenten eine Schlüsselfunktion zuschreibt (Campione 1984, Weinert 1988). Angewendet auf die Leseschwierigkeiten nehmen wir dann mehr als ein Strategiedefizit ein Produktionsdefizit an. Damit ist der Sachverhalt angesprochen, daß eine Strategie prinzipiell vorhanden sein kann, aber nicht spontan genutzt wird. Zur Ausführung bedarf es dann einer besonderen metakognitiven Steuerung, die durch das Lesegespräch beabsichtigt ist.
Die erwünschte Gesprächsführung wird neuerdings in den Ansätzen der dialogischen Forschungsmethoden(Sommer 1987) und der Beratungsforschung(Kaiser& Seel 1982) diskutiert. Die dialogische Forschung ergänzt„objektive‘“ Befragungen und Interviews durch„subjektive“ Stellungnahmen von„Betroffenen“. Die Lesegespräche nehmen in der Erkundung von subjektiven Lesetheorien gegenüber der„freien‘‘ Form in der dialogischen Forschung eine„gebundene“ Form an, die durch Leitfragen gelenkt und durch die Zielrichtung auf metakognitive Prozesse bestimmt ist. Aber es handelt sich nicht um ein einfaches Lehrgespräch, in dem der Lehrende do
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miniert, sondern mehr um eine Beratung, in der es um Entscheidungshilfe für einen Klienten geht. Mit dem Beratungsansatz haben die Lesegespräche die Klärung eines Anliegens in Form der Leseschwierigkeit und dessen Bearbeitung in Form der Selbstanleitung gemeinsam. Durch das Studium dieser Forschungsund Praxisansätze, das die Analyse der Tonbandnachschriften ergänzt, kann die Gesprächsleiterschulung weiter verbessert werden. Es ist auch daran gedacht, die Gesprächsleiter künftig gleich im Anfang an der Bewertung und Klassifizierung der Leseraussagen zu beteiligen. Dadurch soll erreicht werden, daß sie in den Gesprächen auf möglichst umfassende und präzise Antworten hinarbeiten. Von einer verbesserten Gesprächsführung sind eine verbesserte Forschung und eine verbesserte Praxis zu erwarten. In der Forschung wird eine Verzerrung der Ergebnisse zu Lasten einer positiven Einschätzung der metakognitiven Fähigkeiten der Leser vermieden. In der Praxis wird eine Arbeitsweise gefördert, die Lehrer mit Erfahrungen in den Lesegesprächen als eine schülerzentrierte Umorientierung ihrer Arbeit bezeichnet haben, die sich auch auf andere Lehrgebiete positiv auswirkt.
(2) Die Kinder und Jugendlichen berichten in den Lesegesprächen einmal von Strategien, die— wenn auch in anderen Worten— in den Untersuchungen und Lesemodellen der Wissenschaft beschrieben werden. Darüber hinaus thematisieren sie andere für sie wichtige Vorgehensweisen, von denen in der Forschung weniger oder gar nicht die Rede ist. Bei den jugendlichen Leseschwachen ist etwa an die Ängste beim Einsatz bestimmter Hilfen wie Fingerlesen oder an die„Tricks‘“ zu denken, mit denen sie versuchen, Schwierigkeiten zu umgehen. Aus solchen Ergebnissen der Fallstudien und Gruppenuntersuchungen kann die Forschung neue Fragestellungen gewinnen. Auf der anderen Seite fördern Forschungsergebnisse wie der Aufweis der plodder-explorer-Dimension die praktischen Bemühungen zur Verbesserung des Vorgehens bei den Lernenden, wie das in der Fallstudie angedeutet wurde.
HEILPÄDAGOGISCHE
Die Wechselbeziehung zwischen Forschungs- und Praxisansätzen kann weiter durch systematisch wiederholte Lesegespräche gefördert werden, die einen Einblick in längsschnittliche Veränderungen der Strategiemuster und der damit verbundenen metakognitiven Fähigkeiten vermitteln.
(3) Durch die Eingabe von Ergebnissen längsschnittlicher Entwicklungsveränderungen wird das vorgeschlagene Lese-Instruktions-Modell weiter ausgebaut. Die bisherige Matrix mit zwei Eingängen, dem Textniveau und den Leserkognitionen, erhält eine dritte, zeitliche Dimension und kann nach dem Muster des ‚„Interventions-Kubus“(vgl. Brim& Phillips 1988) zu einem ‚Lese-Instruktions-Kubus‘‘ fortentwickelt werden. Dadurch entsteht die Möglichkeit, bei Leseschwierigkeiten zusätzlich biographische Merkmale zu berücksichtigen, die z.B. eine Rolle spielen, wenn Dekodierschwierigkeiten bei Kindern im Anfang der Lernbiographie oder bei Jugendlichen in einer fortgeschrittenen Biographie auftreten. Vergleichende Clusteranalysen zwischen verschiedenen Lesergruppen (vgl. Cross& Paris 1988) versprechen Beiträge zu der Frage, ob Leseschwierigkeiten nach der Entwicklungshypothese als bloße Rückstände oder nach der Differenzhypothese eher als strukturelle Unterschiede zu verstehen sind(vgl. Weinert 1988).
(4) Besondere Bedeutung gewinnen die Modellvorstellungen, wenn es um das Verständnis einzelner Leseschwierigkeiten und die dazu entwickelten Konzepte geht. Die bisherigen Ergebnisse sprechen gegen Schwierigkeiten in der Form eines einzelnen Strategieausfalls. Vielmehr werden Vorstellungen vom Zusammenhang verschiedener Strategiekomplexe gestützt, die in ein Wechselspiel eintreten, wie es z.B. im Lese-InstruktionsModell in den bottom-up- und top-downTendenzen veranschaulicht ist. Daraus abgeleitete Annahmen über Strategieungleichgewichte oder Produktionsdefizite führen im Hinblick auf die Intervention zur Planung von interaktiven und kompensatorischen Ausgleichs- oder Repa
FORSCHUNG Band XVII, Heft 3, 1991