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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Michael Brambring& Heinrich Tröster*

sten Variationen spielerisch angewandt, bis diese Fertigkeit im Repertoire des Kindes verfestigt ist, z. B. beim Rutschen: Rutschen im Sitzen oder Rutschen mit dem Kopf nach vorne. Diese Spielfor­men sind Ausdruck der sensomotori­schen Intelligenzentwicklung.

Im Symbolspiel(synonyme Begriffe: fiction, pretend, imaginative, dramatic, make-believe play) übt das Kind die Re­präsentationsfunktion von Objekten und Situationen, indem eserkennt, daß ein Objekt Zeichen für irgendetwas an­deres sein kann. Diese Repräsentations­funktion wird dem Kind bewußt, wenn esmerkt, daß ein Stock Symbol für ein Gewehr sein kann. Weiterhiner­kennt es, daß eine Handlung stellver­tretend für eine erlebte oder vorgestellte Situation stehen kann, z.B. wenn das Kind Mutter oder Vater spielt. Dabei verwendet das Kind anfänglich solche Symbole als Prototypen, die es aus sei­nem alltäglichen Umfeld kennt(z.B. Mutter, Vater); erst später werden kol­lektive symbolische Prototypen(z.B. Flugzeugpilot, Batman) in das Spiel mit­einbezogen.

Piagets Theorie(1962) ist von anderen Autoren vor allem hinsichtlich seiner Annahme kritisiert worden, daß das Spiel nur eine Reflektion der kogniti­ven Entwicklung des Kindes darstellt. Im Gegensatz zu Piaget(1962) mißt Vygotzky(1967, 1978) dem Funk­tions- und Symbolspiel eine zentrale Rolle für den Erwerb kognitiver Fähig­keiten zu. In gleicher Weise kritisieren Sutton-Smith(1966, 1967, 1976) und Bruner et al.(1976) Piagets Ansatz. Sie meinen, daß das Kind durch das Spiel neue, flexible Verhaltensweisen erlernt. Bruner et al.(1976) sieht die Bedeutung des Funktionsspiels im Erlernen des Werkzeug- und Mittelgebrauchs. Sutton­Smith(1966, 1967, 1976) betont, daß das sogenannteals-ob-Verhalten im Sym­bolspiel dem Kind die Freiheit eröffnet, Situationen umzugestalten und unter­schiedliche Rollen auch im Wechsel einzunehmen. Dabei lernt das Kind im Spiel nicht spezifische Fertigkeiten oder spezifische Rollen(z.B. ein bestimmter Hammer, eine bestimmte Mutter), son­dern das Konzept einer Fertigkeit oder

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Das Spielverhalten blinder und sehender Kinder

das Konzept einer Rolle(z.B. Ham­mer als Werkzeug, Mutter als Autoritäts­person).

Spielverhalten blinder Kinder: Die Auto­ren, die sich unter dem kognitiven Ge­sichtspunkt mit dem Spielverhalten blin­der Kinder beschäftigt haben, weisen vor allem auf die eingeschränkten Möglich­keiten blinder Kinder hin, hinreichende Umwelterfahrungen zu sammeln(Lo­wenfeld 1973; Fraiberg 1977; Folke& Berla 1978; Warren 1984; Ferrell 1986). Daraus ergeben sich ihrer Meinung nach auch die zu beobachtenden Verzögerun­gen im Auftreten einzelner Spielformen bei blinden Kindern. Nur wenige Auto­ren(Brown et al. 1979; Ferrell 1985; Chen et al. 1987), die im Bereich der Frühförderung blinder Klein- und Vor­schulkinder tätig sind, vertreten die Auffassung, daß durch Spielanleitung die Kognitionsentwicklung blinder Kin­der gefördert werden kann. Diese weisen darauf hin, daß durch spielerische Anlei­tung kognitive Prozesse bei blinden Kin­dern angeregt werden können, beispiels­weise, wenn ihnen die Funktionen ver­schiedener Spiel- und Alltagsgegenstände im Spiel nahegebracht werden.

Die meisten Autoren beziehen sich in ihrer Interpretation des Spielverhaltens blinder Kinder explizit oder implizit auf Piaget(1962). Sie weisen darauf hin, daß blinde Kinder von frühester Kind­heit an im Erwerb sensomotorischer Handlungen und begrifflicher Vorstel­lungen eingeschränkt sind. Aufgrund dieser Schwierigkeiten lassen sich Ent­wicklungsverzögerungen im Spielverhal­ten blinder Klein- und Vorschulkinder erwarten.

Körperbezogenes Spiel und Funktions­spiele: Alle Autoren weisen auf Ent­wicklungsverzögerungen bei den kom­plexeren Formen des Funktionsspiels hin. Körperbezogenes Spiel und die Mundexploration von Objekten als rudi­mentäre Spielformen treten dagegen bei blinden Kleinkimdern nicht wesentlich später als bei sehenden Kindern auf. Hin­sichtlich der Exploration von Gegenstän­den mit dem Mund scheint bei blinden Kleinkindern ein Persistieren in dieser Spielform beobachtbar zu sein(Burling­

ham 1961, 1975; Sandler 1963; Fraiberg 1977).

Die Loslösung von diesen einfachen For­men des Funktionsspiels und der Über­gang zu komplexeren Formen ist bei blin­den Kindern verzögert. Blinde Kleinkin­der haben beispielsweise große Schwie­rigkeiten bei relationalen Gebrauch von Gegenständen, wie Spielsachen aus ei­nem Behälter zu holen oder wieder hin­einzulegen. Fraiberg(1968) weist darauf hin, daß solche relationalen Objektmani­pulationen selbst im 2. Lebensjahr für blinde Kinder oft zu schwer sind. Blinde Kinder verharren oft lange auf der Stufe derundifferenzierten Ojbektmanipula­tionen(Schütteln, Schlagen, Kratzen oder Wegwerfen der Gegenstände) mit gleichzeitiger Exploration der Objekte durch den Mund.

Parsons(1986) zeigte bei einem Ver­gleich normalsichtiger zwei- bis vierjäh­riger Kinder mit gleichaltrigen sehbe­hinderten bis hochgradig sehbehinderten Kindern, daß die sehgeschädigten Kinder häufiger stereotype und weniger funk­tionsgerechte Spielformen produzieren. Es ergaben sich sowohl quantitative(Dau­er der Spieltätigkeit) als auch qualitative Unterschiede(Art des Spiels) zuungun­sten der sehgeschädigten Kinder.

Über das Konstruktionsspiel blinder Kin­der liegen keine Angaben vor. Es liegt nahe anzunehmen, daß diese Spielform für blinde Kinder besonders schwer ist, da das Konstruktionsspiel in Form von Bauen oder Basteln eine hohe Präzision in der Handgeschicklichkeit erfordert. Zudem gibt es wenig geeignetes Spiel­material, welches für das Konstruktions­spiel blinder Kinder verwendbar ist. Ein weiterer Grund für das eingeschränkte oder nicht vorhandene Konstruktions­spiel bei blinden Kindern dürfte darin zu sehen sein, daß das herzustellende Werk sich normalerweise an optischen Vorbil­dern orientiert, z.B. beim Bauen eines Hauses aus Duplosteinen. Eine solche op­tische Vergleichsmöglichkeit fehlt blin­den Kindern und ist im taktilen Bereich schwer herstellbar.

Symbolspiele: Wesentlich größere Ent­wicklungsunterschiede als bei den Funk­tionsspielen ergeben sich zwischen blin­den und sehenden Kindern bei den ver­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 3, 1991

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