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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Michael Brambring& Heinrich Tröster*

Im Fall des neuartigen Reizes oder der neuartigen Situation versucht der Mensch oder das Tier, zunächst die damit ver­bundene Erregungserhöhung zu mindern, indem es sich vor dieser Anregungsüber­flutungschützt. Beim Kind läßt sich dieses Verhalten beobachten, wenn es sich beispielsweise beim Besuch fremder Personen hinter dem Rücken der Mutter versteckt. Wenn nach längerer Beobach­tung der neuartige Reiz oder die angst­auslösende Situation weniger erregend wirkt, kommt es anschließend zur Ex­ploration dieser neuartigen Situation. Dadurch wird das Erregungsniveau weit­hin gesenkt, bis es wieder auf den Grund­zustand zurückgeführt ist(specific exploration).

Im zweiten Fall der fehlenden Stimu­lation wird durch aktive Informations­suche und Handlungsaufnahme die emp­fundene Erregungserhöhung zu reduzie­ren versucht, indem mit den Objekten hantiert undgespielt wird(‚diverse exploration). Berlyne(1960) nennt zwar diese zweite Form der Exploration nicht explizitSpiel, aber das von ihm beschriebene Verhalten gleicht spieleri­schen Aktivitäten. Beide Formen der Spannungsreduzierung sind intrinsische Vorgänge, die zentralnervös vom Orga­nismus gesteuert werden. Die Erregungs­theorie von Berlyne(1960) und andere Erregungstheorien liefern eine Erklärung dafür, warum das Kind ohne externe An­leitung spielt(intrinsische Motivation). DerWert kindlichen Spiels wird so­mit nach den erregungsregulierenden Ansätzen nicht in bestimmten Aneig­nungsprozessen, wie sie die kognitiven Theorien postulieren, gesehen, sondern in der Herstellung und Erhaltung eines optimalen Erregungszustandes des Orga­nismus.

Spielverhalten blinder Kinder: Bisher gibt es keine empirischen Untersuchun­gen oder theoretischen Abhandlungen über das Spielverhalten blinder Kinder, die sich ausdrücklich auf Berlynes Erre­gungstheorie(1960) oder einen anderen erregungsregulierenden Ansatz beziehen. Dennoch können einige der bei blinden Kindern beobachteten Verhaltensweisen

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Das Spielverhalten blinder und sehender Kinder

im Sinne dieser theoretischen Ansätze interpretiert werden.

Das aktive Erkunden neuartiger Reize (specific exploration) ist für blinde Kinder erschwert, da sie nicht wie sehende Kinder neue, angsterregende Situationen zunächst aus sicherer Distanz beobachten können, um sie anschließend selbst aktiv zu erkunden. Blinde Kinder haben oft unvermittelt Kontakt mit neuen Umweltobjekten, sei es, daß sie sie selbst zufällig berühren, sei es, daß sie ihnen ohne Vorankündigung in die Hand gegeben werden. Die bei blinden Kindern häufiger beschriebene Tast­scheu, d.h. Abwehr neuartiger Gegen­stände, die ihnen in die Hand gegeben werden(Wills 1972; Fraiberg 1977), läßt sich eventuell als ein analoges Abwarte­verhalten neuartigen Reizen gegenüber beschreiben wie das Verstecken sehender Kinder hinter dem Rücken der Mutter. Aber nicht nur dasvorsichtige Heran­gehen an unbekannte Objekte oder Situationen ist bei blinden und sehbe­hinderten Kindern erschwert, sondern auch das nachfolgende Explorationsver­halten. Aufgrund der eingeschränkten Lokalisierungs- und Lokomotionsfähig­keiten und aufgrund der Schwierigkei­ten in den manuellen Koordinationslei­stungen, sind blinde Kinder nicht wie sehende Kinder in der Lage, neue Ob­jekte und neue Umgebungen systema­tisch und hinreichend zu explorieren (Sandler& Wills 1965).

Auch der Prozeß derdiverse explora­tion, d.h. die aktive Suche nach Spiel­möglichkeiten bei fehlender Stimulation, ist bei blinden Kindern erschwert, da das blinde Kind die Spielobjekte nur schwer erreichen kann. Es ist somit bei der Suche nach Spielmöglichkeiten auf diejenigen Objekte angewiesen, die es entweder zufällig erreicht oder von de­nen es weiß, wo sie sich befinden oder die ihm in die Hand gegeben werden. Alle drei Möglichkeiten reichen sicher­lich häufig nicht aus, um eine Unter­stimulation bei blinden Kindern zu ver­meiden. Einige Autoren(Fraiberg 1977; Warren 1984; Ferrell 1986) meinen die bei blinden Kindern häufig zu beobach­tenden Bewegungsstereotypien darauf zurückführen zu können, daß blinde Kin­

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der sich auf diese Weise kompensatori­sche Stimulation verschaffen. Die man­gelnden Möglichkeiten der Erregungsre­gulierung wären demnach der auslösen­de Faktor für das vermehrte Auftreten von Bewegungsstereotypien bei blinden Kindern(Tröster, Brambring& Beel­mann, im Druck).

Der theoretische Ansatz von Berlyne (1960) liefert somit Hinweise darauf, warum es bei blinden Kindern aufgrund des eingeschränkten Explorations- und Spielverhaltens zu Verhaltensweisen wie Tastscheu und Bewegungsstereotypien kommt. Tastscheu und Bewegungsstereo­typien können als Ausdruck der erhöhten Erregung bei blinden Kindern interpre­tiert werden, da ihnen weniger Möglich­keiten zur Erregungsregulierung als se­henden Kindern zur Verfügung stehen. Bisher fehlt es an empirischen Arbeiten, die das Explorationsverhalten blinder Kinder systematisch untersucht haben. Die einzige empirische Arbeit konnte die Einschränkungen Ssehgeschädigter Kinder im Explorationsverhalten nicht oder nur begrenzt bestätigen. In der Un­tersuchung von Olson(1983) wurden 30 Kinder im Alter von 2,1 6,3 Jah­ren(15 sehgeschädigte, 15 normalsich­tige Kinder) beim explorativen Umgang mit einem bekannten und einem unbe­kannten Objekt beobachtet. Es ergaben sich keine wesentlichen Unterschiede im Explorationsverhalten zwischen beiden Gruppen. Ein Grund für das vielen son­stigen Beobachtungen(Sandler 1963; Sandler& Wills 1965; Fraiberg 1977) widersprechende Ergebnis könnte darin liegen, daß nur 4 der 15 sehgeschädig­ten Kinder als blind oder hochgradig sehbehindert zu bezeichnen waren. Ein weiterer Grund für das überraschende Ergebnis könnte sein, daß in dieser Un­tersuchung das manuelle Explorations­verhalten beobachtet wurde. Eventuell ist diese Form der Exploration bei blin­den Kindern nicht eingeschränkt, son­dern vor allem ihr aktives Erkunden der räumlichen Umgebung.

Soziale Ansätze

Die sozialen Ansätze zur kindlichen Spielentwicklung betonen einerseits die

FORSCHUNG Band XVII, Heft 3, 1991