Michael Brambring& Heinrich Tröster*
Das Spielverhalten blinder und sehender Kinder
Bedeutsamkeit des sozialen Umfeldes für die Entstehung von Spiel, andererseits messen sie dem Spiel eine wesentliche Funktion für das Erlernen und die Übernahme sozialer Rollen zu— ein Aspekt, der auch schon bei den kognitiven Ansätzen zur Spielentwicklung anklang. Im Gegensatz zu den kognitiven Ansätzen steht nicht so sehr der Umgang mit den Spielobjekten, sondern die Einbettung des kindlichen Spiels in soziale Bezüge im Vordergrund der Betrachtung.
Garvey(1977) und McCall et al.(1977) weisen darauf hin, daß kindliches Spiel durch gemeinsame Aktivitäten mit den primären Bezugspersonen entsteht. Direkte Anleitung und Nachahmung sind die beiden wesentlichen Prozesse, durch die das Kleinkind zu spielen„lernt“. Schon die einfachsten Kinderspiele wie Schütteln einer Rassel oder Versteckspielen sind sozial angeleitet und initiiert. Auch das Symbolspiel entsteht vorwiegend aus der sozialen Interaktion von Mutter und Kind.
Sowohl innerhalb einer Kultur in Abhängigkeit von der sozialen Schicht als auch zwischen verschiedenen Kulturen lassen sich unterschiedliche Spielformen bei den Kindern beobachten(Smilansky 1968; Schwartzman 1978, 1979; Darvill 1982). Dabei scheinen die sozialen und kulturellen Einflüsse sowohl für die Entstehung und Form kindlichen Spiels als auch über das Medium Spiel für die Sozialisation des Kindes von zentraler Bedeutung zu sein. Wie schon erwähnt, sieht Sutton-Smith(1966, 1967, 1976) die wichtigste Funktion des Symbolspiels im Erlernen sozialer Rollen und in der Fähigkeit, im Spiel verschiedene Rollen einzunehmen. Durch diese Rollenspiele lernt das Kind, die soziale Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen. Sie dienen somit der Übernahme sozialer Werte und Einstellungen einer Kultur(Schwarzman 1978, 1979).
Spielverhalten blinder Kinder: Berichte, die das Spielverhalten blinder Kinder im Sinne sozialer Ansätze interpretieren, betonen die noch größere Wichtigkeit primärer Bezugspersonen für die Spielanlei
tung dieser Kinder(Sandler 1963; Fraiberg 1968; Tait 1972c; Burlingham 1975). Ohne Anleitung zum Spielen verfallen blinde Kinder schnell in„körperbezogene Spiele“ oder„undifferenzierte Objektmanipulationen‘“ wie ständiges Kratzen an Spielobjekten oder ständiges Schütteln, Schlagen bzw. Wegwerfen der Objekte. Bei fehlender Anleitung besteht die Gefahr, daß blinde Kinder kein aktives Greifen nach und Explorieren von Objekten zeigen, d.h. daß ihre Hände „blind“ bleiben(Fraiberg 1977). Dagegen läßt sich durch Anleitung eine Verbesserung des Spielverhaltens erreichen (Sandler 1963; Fraiberg 1968). Diese Verbesserungen sind jedoch meist nicht permanent, sondern bergen immer die Gefahr des Rückfalls in einfache Formen des Funktionsspiels in sich(Wills 1968).
Die Gefahr ungenügender Anleitung für blinde Kinder ist sehr groß, da durch den emotionalen Schock, unter dem Eltern blinder Kleinkinder anfänglich leiden, und aufgrund einiger Besonderheiten in der sozialen Entwicklung blinder Babies, die Entstehung stabiler sozialer Beziehungen zwischen blindem Kind und Eltern erschwert ist(Fraiberg 1977; Wills 1979; Als et al. 1980; Rogers& Puchalsky 1984; Rowland 1984; Junefelt 1987, Freeman et al. 1989). Beispielsweise zeigen zwar blinde Babies zur gleichen Zeit wie sehende Babies das sogenannte„soziale Lächeln“(um den 3./4. Lebensmonat herum), aber dieses Lächeln ist bei ihnen nicht mit der gleichen Regelmäßigkeit und Intensität wie bei sehenden Babies auslösbar. Fraiberg (1977) spricht in diesem Zusammenhang vom„stummen Lächeln“‘ blinder Babies(vgl. auch Rogers& Puchalsky 1986). Eine weitere Besonderheit besteht darin, daß blinde Babies auf vertraute Stimmen oft mit einer Lauschreaktion, d.h. Ruhigwerden und Hinwendung des Ohres und Abwenden des Gesichtes, reagieren. Beide Verhaltensweisen können von Eltern blinder Babies als Desinteresse ihres Kindes an ihnen fehlinterpretiert werden und zu verminderter Zuwendung, auch in Spielsituationen führen.
Blinde Kinder zeigen im Spielverhalten ab dem 2. Lebensjahr eine weitaus deut
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 3, 1991
lichere Bezogenheit auf Erwachsene (Tait 1972a,b; Wills 1965, 1972) und eine deutlich geringere Interaktion mit gleichaltrigen anderen Kindern(Schneekloth 1989). Die Gründe für dieses unterschiedliche Verhalten zu sehenden Kindern scheinen in der stärkeren Bindung und den größeren Loslösungsproblemen blinder Kinder(Fraiberg 1977) zu liegen. Erwachsene besitzen offensichtlich eine sehr wichtige Mediatorfunktion für das Spielverhalten blinder Kinder(Simmons& Davidson 1985). Sie scheinen eher als gleichaltrige Kinder in der Lage zu sein, die Spielsituation für das blinde Kind angemessen und interessant zu gestalten, was zu der stärkeren Erwachsenenbezogenheit blinder Kinder führen kann.
Das erstmalige Auftreten von Symbolspielen erfolgt gemäß den sozialen Ansätzen zur Spielforschung vor allem durch die Anregungen der primären Bezugspersonen. Die ersten Formen von Symbolspiel, die sich bei Kleinkindern beobachten lassen, beziehen sich auf Alltagsroutinen, die das Kind an sich selbst erlebt oder die es bei vertrauten Personen seiner Umgebung beobachtet hat, z.B. trinken aus einer leeren Tasse oder sich selbst mit einem leeren Löffel füttern. Diese Formen des ‚„selbstbezogenen Symbolspiels‘*, die vor allem auf eigenen Körpererlebnissen beruhen, scheinen auch bei blinden Kleinkindern in etwa altersgemäß aufzutreten. Dagegen ergeben sich massive Entwicklungsverzögerungen bei„fremdbezogenen Symbolspielen‘‘, d.h. solchen Symbolspielen, die sich auf andere Personen, Substitute oder Miniaturen beziehen. Eine Erklärung dafür ist, daß durch die Blindheit das Nachahmungslernen(Bandura 1979) enorm eingeschränkt ist, so daß es blinden Kindern schwerfällt, Vorgänge anderer Personen nachzuspielen(Sandler & Wills 1965). Das Hören, wie die Mutter in der Küche hantiert, reicht offensichtlich nicht aus, um eine Vorstellung von dieser Handlung zu erlangen, so daß sie nachgespielt werden könnte. Aufgrund des verspäteten Auftretens fremdbezogenen Symbolspiels bei blinden Kindern müßte sich im Sinne der sozialen Theorien eine Verzögerung in
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