Michael Brambring& Heinrich Tröster*
der Übernahme sozialer Regeln bei blinden Kindern ergeben, da das Kind im Symbolspiel durch die wechselnde Einnahme verschiedener Rollen, z.B. die Rolle der Mutter, des Vaters oder des Doktors, die mit diesen Rollen verbundenen Rechte und Pflichten erlernt. Bisher liegen keine empirischen Befunde vor, die diese Annahme der verzögerten Übernahme sozialer Werte bei blinden Vorschulkindern bestätigen oder widerlegen könnten. Jedoch weist van Hasselt (1983) darauf hin, daß im Schul- und Jugendalter solche Schwierigkeiten bei Blinden beobachtbar sind.
Psychoanalytische Ansätze
Die psychoanalytischen Theorien zum Spiel basieren auf Grundannahmen, die schon Freud(1969) in den 20er Jahren formuliert hat. Obwohl Freud nie eine systematische Abhandlung über das Spiel veröffentlicht hat, sind seine Grundideen über die Bedeutung des kindlichen Spiels von anderen Psychoanalytikern aufgegriffen und erweitert worden(Mead 1934; Erikson 1950; Peller 1969).
Freud(1969) mißt dem kindlichen Spiel zwei Funktionen zu— erstens die Möglichkeit der Triebbefriedigung und zweitens die Bewältigung traumatischer Erlebnisse. Nach Freud(1969) bietet das Spiel dem Kind eine angemessene Form, seine Triebbedürfnisse, die in der Realität nicht offen gezeigt werden dürfen, symbolisch auszudrücken. Dabei handelt es sich vor allem um sexuelle und aggressive Triebregungen, die auf die Eltern gerichtet sind. Im Spiel können ähnlich wie im Traum oder in den Phantasien sozial nicht akzeptable Triebbedürfnisse in verdichteter, veränderter Form offenbart werden. In den ersten Lebensjahren werden die Triebwünsche(z.B. Aggressionen gegenüber den Eltern oder unmittelbare Wunscherfüllung leiblicher Bedürfnisse) noch relativ ungefiltert geäußert. Mit zunehmender Ich- und ÜberIch-Entwicklung findet in der Regel in der kindlichen Entwicklung eine immer bessere Realitätsanpassung, aber auch eine Verschiebung der Triebwünsche in symbolische Formen wie Traum, Phan
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Das Spielverhalten blinder und sehender Kinder
tasie oder Spiel statt. Bestehen diese Möglichkeiten der Triebwunschäußerungen nicht, so kann es nach Mead(1934) zu Problemen der Ich-Entwicklung und Identitätsfindung kommen.
Die zweite Funktion des Spiels, die ebenfalls auf Freuds Grundidee basiert, besteht in der kathartischen Wirkung des Spiels. Freud spricht vom ‚,Wiederholungszwang‘‘, d.h. im Spiel wiederholt das Kind Ereignisse, die für das Kind angsterregend und konfliktträchtig waren. Durch das Spiel ist das Kind in der Lage, seine Ängste, Frustrationen und Spannungen abzureagieren. Dies geschieht meist dadurch, daß das Kind das, was es selbst erlitten hat, aktiv einem anderen— Puppe, Spielpartner— zufügt. Diese Katharsis-Funktion des Spiels ist vor allem von Erikson(1950) und Peller(1969, 1973) aufgegriffen und ausformuliert worden. Erst die Möglichkeit, angstbesetzte Situationen im Spiel kindgemäß zu bewältigen, schafft nach Ansicht von Erikson(1950) und Peller (1969, 1973) die Voraussetzung einer normalen Persönlichkeitsentwicklung. Folglich eignet sich die Spieltherapie bei emotional gestörten Kindern zur Bewältigung nicht gelöster Konflikte(Klein 1959; Axline 1969; Freud 1970).
Spielverhalten blinder Kinder: Die Beurteilung der Entwicklung blinder Kleinund Vorschulkinder aus psychoanalytischer Sicht hat eine lange Tradition in der Blindenforschung. An der Hampstead Child-Therapy Clinic in London (Leiterin: Anna Freud) bestand lange Jahre eine Betreuungsgruppe für blinde Kinder. Die Beobachtungen bei diesen Kindern sind in vielfältigen Veröffentlichungen niedergelegt worden(Burlingham 1961, 1965, 1968, 1972, 1975, 1979; Sandler 1963; Sandler& Wills 1965; Wills 1965, 1968, 1970, 1979, 1981; Hunt& Wills 1983). Auch Fraiberg (1977) interpretiert Teile ihrer Beobachtungen aus der zweijährigen Längsschnittstudie an 10 blinden Kindern unter psychoanalytischen Gesichtspunkten.
Hinsichtlich des Spiels blinder Kinder wird von den Autoren vorwiegend auf die Auswirkung des verzögerten fremdbezogenen Symbolspiels für die Persön
HEILPÄDAGOGISCHE
lichkeitsentwicklung eingegangen(Burlingham 1961, 1975; Fraiberg& Freedman 1964; Fraiberg 1968; Wills 1965, 1970, 1972, 1981). Beide dem Symbolspiel aus psychoanalytischer Sicht zugewiesenen Funktionen— erstens Triebwünsche, die nicht offen gezeigt werden dürfen, in verdichteter Form im Spiel zu äußern und zweitens Konflikte, vor allem angsterregende Situationen im Spiel zu verarbeiten— können blinde Kinder nicht in gleicher Weise wie sehende Kinder nutzen, wodurch sich Probleme in der emotionalen Entwicklung blinder Kinder ergeben können.
Burlingham(1961, 1965), Fraiberg(1968) und Wills(1970, 1981) weisen darauf hin, daß vor allem aggressive Triebwünsche von blinden Kindern selten gezeigt werden. Insgesamt scheint der Umfang und die Variabilität gezeigter Emotionen bei blinden Kindern eingeschränkt zu sein. Dabei ist ungeklärt, ob wegen des verspäteten Auftretens von Symbolspiel die aggressive Komponente im Spiel blinder Kinder fehlt oder ob blinde Kinder wegen der geringeren Beobachtungsmöglichkeiten von Aggression oder wegen der größeren Abhängigkeit von der Hilfe anderer Personen zu weniger Aggressivität neigen. Es könnte aber auch sein, daß blinde Kinder ihre Aggressivität nicht im Spiel, sondern in Form von Bewegungsstereotypien zum Ausdruck bringen(Tröster, Brambring& Beelmann, im Druck).
Wills(1965) und Burlingham(1972) weisen auf die häufig zu beobachtende Ängstlichkeit blinder Vorschulkinder hin. In einer eigenen Untersuchung (Brambring et al. 1990) wurden von Eltern zwei- bis sechsjähriger blinder Kinder die Angstreaktionen ihrer Kinder als das häufigste Erziehungsproblem genannt. Ein Grund dafür könnte sein, daß blinde Kinder nicht in gleichem Maße wie sehende die Möglichkeit haben, im Symbolspiel ihre Ängste zu verarbeiten.
Aus psychoanalytischer Sicht wird angeborene Blindheit als ein erhebliches Risiko für die normale Persönlichkeitsentwicklung angesehen. Dabei wird auf die vorher genannten vermehrten Loslösungsprobleme blinder Kinder von der Mutter und die damit verbundene stär
FORSCHUNG Band XVII, Heft 3, 1991