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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Theoretischer Hintergrund

Die Mehrzahl der Autoren, die den Komplex der Einstellung zu behinder­ten Menschen untersucht haben, konsta­tieren eher ungünstige bis feindselige Tendenzen in der Bevölkerung, eine aus­geprägte Verhaltensunsicherheit gegen­über behinderten Menschen und eine im­mer noch weitverbreitete Befürwortung sozialer Segregation(vgl. u.a. Jäeckel& Wieser 1970; Jansen 1972; Esser 1975; von Bracken 1981; Seifert& Stangl 1981; Christiansen-Berndt 1981; Bächthold 1981; Lenzen 1984; Fries 1991 u.a.). Stellvertretend für viele Ergebnisse soll die Feststellung von Bächthold(1981) gelten, die der Autor als Resumee aus einer vielbeachteten Repräsentativbefra­gung(vgl. Tuggener 1982) an 1200 Deutschschweizern gezogen hat: ‚,... Dein Ziel der sozialen Integration Be­hinderter steht eine Wirklichkeit entge­gen, welche in ihren dominierenden Zü­gen aus Menschen mit einer utilitaristi­schen Lebenspraxis, einer egozentrischen Weltsicht der Intoleranz oder mit rigiden Normen der Leistungsfähigkeit und der sozialen Anpassung besteht(S. 419). Gegen viele der vorgelegten Studien zu Einstellungen der Gesellschaft zu behin­derten Menschen und Einstellungsunter­suchungen allgemein werden sowohl auf der inhaltlichen wie auf der methodolo­gischen Ebene Einwände vorgetragen (vgl. u.a. Cloerkes 1979; Markard 1984; Scherer 1984; Tröster 1987, 1990). Sei­fert& Bergmann(1983) haben auf ein besonderes Desiderat, vor allem in deutschsprachigen Forschungen, auf­merksam gemacht, nämlich auf die Tat­sache, daß bislang kaum standardisierte Einstellungsskalen in den Untersuchun­gen verwendet worden sind(S. 219; vgl. auch Tröster 1987, 1990).

Cloerkes(1979, S. 393) betont, daß bei der Erklärung der Struktur von Einstel­lungen gegenüber physisch abweichenden Personen den dominierenden Werten der Gesellschaft die größte Bedeutung zukommt. Daneben werden als weitere Determinanten genannt: Art der Behin­derung, Kontakt mit Behinderten, Le­bensalter, Geschlechtszugehörigkeit so­

Alfred Fries*

wie bestimmte Persönlichkeitskonstella­tionen der Einstellungsträger. Einstellungen stellen ein multikausales Konstrukt dar, beeinflußt von psycho­dynamischen, situationalen, soziokultu­rellen, historischen und anderen Fakto­ren. Dieser in der Literatur hinlänglich bekannten Tatsache muß zwingend Rechnung getragen werden sowohl bei der Analyse empirisch erfaßter Einstel­lungsstrukturen als auch bei der Planung von Strategien zur Veränderung mensch­lichen Einstellungsverhaltens.

Die folgenden theoretischen Ausführun­gen gehen nun kurz(ohne den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen) auf Ergebnisse von Einstellungsuntersu­chungen gegenüber behinderten Men­schen in Abhängigkeit der Faktoren Alter, Geschlechtszugehörigkeit und Persön­lichkeitsdimensionen ein, Diese Ausfüh­rungen lehnen sich zum Teil an Cloerkes (1979) an, der bislang die wohl ausführ­lichste und differenzierteste Zusammen­schau empirischer Arbeiten zum Einstel­lungsverhalten der Gesellschaft gegen­über körperbehinderten Menschen vor­gelegt hat.

Ergebnisse zum Faktor Lebensalter und Geschlechtszugehörigkeit

Cloerkes(1979) hat zusammenfassend hervorgehoben, daß in der Literatur eine lineare positive Beziehung zwischen Le­bensalter und Einstellungen gegenüber behinderten Personen fast ebenso häufig gefunden wurde wie eine negative oder nicht signifikante Beziehung. Fries(1991) deutet die Ergebnisse einer Fragebogen­studie an 263 Personen dahingehend, daß mit fortschreitendem Alter bestimmte Einstellungen(wie z.B. Fragen zur Inte­gration behinderter Kinder, Fragen zur Heirat zwischen behinderten und nicht­behinderten Personen) gegenüber phy­sisch abweichenden Menschen eher ne­gativ ansteigen. Bächthold(1981) hat die Ergebnisse der schon zitierten Reprä­sentativstudie auch nach dem Faktor Alter der Befragten ausgewertet und stellte deutliche Unterschiede in der Reaktion auf Behinderte zwischen der Altersgruppe der über SOjährigen und

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 3, 1991

Einstellungen gegenüber körperbehinderten Menschen

der Altersgruppe der unter SOjährigen fest. Ältere Personen betonen dieAn­dersartigkeit der Behinderten(im nega­tiven Sinn) stärker als jüngere Personen und thematisieren eine größere soziale Distanz gegenüber Behinderten und ihren Familien als es die jüngeren Personen der Untersuchung taten. Andererseits war bei der Gruppe der über SOjährigen Wohl­wollen, Verantwortungsgefühl und Mit­leid wiederum stärker festzustellen(eine Feststellung, die aber nicht auf geistig behinderte Menschen zutrifft). Jansen (1972) betont, daß es schwerfällt, die Unterschiede, die sich im Hinblick auf die Altersgruppen seiner Untersuchung ergeben haben, zusammenfassend zu interpretieren.Vor allem ist es kaum möglich, eine Wertung etwa dergestalt vorzunehmen, daß man sagen würde, die eine oder andere Altersgruppe sei den Körperbehinderten gegenüber positiver eingestellt. Wahrscheinlich sind schon die Voraussetzungen, unter denen die einzelnen Fragen aus verschiedenen Al­tersgruppen betrachtet werden, oft ver­schieden(Jansen 1982, S. 101). Von ähnlichen Problemen bezüglich einer schlüssigen Interpretation ihrer Ergeb­nisse berichten auch Strasser, Siever& Munk(1968). Neben der Analyse der reinen Fakten ergeben sich auch Proble­me bei den in der Literatur angebote­nen Erklärungsversuchen für eine größere Ablehnung von behinderten Menschen durch ältere Personen. Viele der Erklä­rungsversuche betrachtet Cloerkes(1979) alsspekulativ*(S. 202).

Anders als bei der Variablen Lebensalter gehen bei der Variablen Geschlechtszu­gehörigkeit folgt man den Recherchen von Cloerkes(1979, S. 203 ff.) die Er­gebnisse insgesamt gesehen eher in fol­gende Richtung: Weibliche Versuchsper­sonen zeigen eine positivere Einstellung gegenüber behinderten Menschen als männliche Versuchspersonen. Allerdings deuten die Ergebnisse von Käfer(1987) auch darauf hin, daß diese Aussagen nicht verallgemeinert werden dürfen. In der Studie von Käfer beurteilten insge­samt 80 Versuchspersonen je zwölf Fo­tos von Menschen mit Down-Syndrom im Rahmen fiktiver Interaktionssituatio­nen. Ein Ergebnis dieser Untersuchung

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