Holger Probst& Beate Gleim- Versorgung schwergeistig- und mehrfachbehinderter Erwachsener
liche Leistungen. Aber auch hier beträgt die Differenz fast ein Entwicklungsjahr, was sich im aktiven Benennen von drei und mehr Objekten, Befolgen verbaler Anweisungen, im Gebrauch von Zweiwortsätzen äußert; die Psychiatriepatienten dagegen„äußern— z.B.— Wünsche durch zeigen‘ oder„reagieren angemessen auf Worte oder Gesten‘‘,
Offensichtlich hat die pädagogische Umgebung des Heilpädagogischen Heimes die stärksten positiven Auswirkungen auf die Schwerstretardierten(Straßmeier-Probanden), und bei diesen wiederum fördert es am deutlichsten die lebenspraktischen Fertigkeiten. Die qualitative Differenzierung der Fortschritte für die mittelgradig(nach dem Heidelberger-Kompetenz-Inventar beurteilten) Behinderten wäre nur durch entsprechende Auswertung ihrer Aktenauszüge möglich; das Material steht zur Verfü
gung.
Diskussion
Das Ergebnis dieser Studie empfiehlt sich als empirischer Beleg für eine bisher durch Erfahrung und Kasuistik(z.B.
Theunissen 1988,„Herr B.‘) gestützte,
sowie diskursiv wohlbegründete Über
zeugung, daß auch und gerade Schwerstbehinderte unter geeigneten Lebensumständen Persönlichkeitsfortschritte machen, die der psychiatrischen Diktion von versandeten, bildungsunfähigen, vegetierenden leeren Hülsen, vom„harten
Kern“ der tiefstehenden Idioten wider
sprechen(siehe Jantzen 1990).
Vorausgesetzt man akzeptiert das me
thodische Design dieser Untersuchung
als aussagekräftig, so wird die Stärke des
Effektes pädagogischer vs. psychiatri
scher Behandlung unter Berücksichti
gung folgender Faktoren zu bewerten sein:
— Die positive Persönlichkeitsveränderung der Klienten erscheint als Grad der Einhelligkeit, mit der Beurteiler Entwicklungsdifferenzen bzw.-gleichstand ehemals(Un-)Gleicher feststellen können. Danach ist zu folgern, daß überzufällig häufig festgestellte
Unterschiede große, deutliche Unterschiede sein müßten. Auf die Skala des Entwicklungsalters bezogen kann der Fortschritt mit 10-23 Monaten taxiert werden.; Die für die Klienten wie für ihre Betreuer wesentliche Veränderung dürfte im qualitativen Wechsel ihrer lebenspraktischen Kompetenzen zu suchen sein. Der Sprung vom Bettliegen mit Einkoten und Gefüttert-werden zum selbständigen Ankleiden, Toilettengang, Essen und Trinken verschiebt die Handlungsstruktur der Patienten wie die ihrer Betreuer in entscheidender Weise.
Für die Avantgarde der Normalisierung des Lebens Schwerstbehinderter in der Bundesrepublik(vertreten beim Kongreß„Ende der Verwahrung“, Marburg, Juni 1990) bedeutet die Einrichtung Heilpädagogischer Heime die regionale Verstreuung der homogen mit Behinderten besetzten Institutionen, wie es Feusers Quecksilbergleichnis(vorgetragen am 14.6. 90) ausdrückt:
Schütte ich Quecksilber aus einem Behälter, so zerspringt es in unendlich viele Kügelchen, aber es bleibt — giftiges— Quecksilber. Demnach sind Heilpädagogische Heime allenfalls als Übergangsformen zum selbständigen und ambulant betreuten Wohnen behinderter Menschen zu tolerieren, und das Quecksilber ist erst dann verschwunden, wenn die Abgrenzung von Behinderten in den Köpfen der Nicht-Behinderten überwunden ist. Dieser Hintergrund relativiert unser„Lob des Heilpädagogischen Heimes‘“ auf den Kontrast zur Psychiatriestation, denn ohne Zweifel sind bereits Betreuungsformen realisiert bzw. konzipiert, die Schwerstbehinderten wesentlich weitergehende Entfaltungsmöglichkeiten bieten. Wir könnten in dieser Linie interpretieren,: daß unsere mittelgradig retardierten Probanden an die Decke der Fördermöglichkeiten des Heilpädagogischen Heimes stoßen. Andererseits gilt das Heilpädagogische Heim in Langenfeld als außerordentlich günstiger Fall, dessen Bedingungen
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 4, 1990
von Heilpädagogischen schlechthin erreicht
keineswegs Einrichtungen werden.
Zum Zeitpunkt des Umgebungswechsels — 1980— hatten alle Patienten unserer Studie eine lebenslange, mindestens 15jährige Karriere in Institutionen durchlebt; sie waren hospitalisiert und chronifiziert dennoch in der Lage, auf geänderte Anforderungen ihrer Lebensumstände lernend zu reagieren. Dabei mag hier gelten, daß„Jange Zeiträume und sehr differenzierte Pläne nötig“ waren,„um selbst verhältnismäßig geringe Fortschritte im Bereich etwa lebenspraktischer Fertigkeiten zu erzielen: beim Essen, beim Toilettengang, bei der Körperpflege...“ (Anstötz 1988, 370). Aus dem Umkehrschluß folgt jedoch, daß sofortige und fortgesetzte aktivierende und normalisierende pädagogische Betreuung die „Krankheitsbilder‘‘, von denen Langenfeld 1980 ausging und die wir 1989 in Herborn sahen, wohl nicht hätte entstehen lassen. Unsere Studie berührte auch„den Personenkreisextrem geschädigter Menschen, deren Leben in höchstem Maße abhängig ist von ihren Mitmenschen, die sie füttern, windeln, waschen, kurz: rundum versorgen‘. Es waren„schwerstbehinderte(n) Menschen...,die zu Empfindungen von Lust und Unlust, von Freude und Schmerz fähig sind, aber trotz jahrelanger pädagogischer Bemühungen kaum eine rudimentäre menschliche Kommunikation realisieren können, auf menschliche Ansprache kaum systematische Reaktion zeigen und oft mit großem medizinischen Aufwand am Leben gehalten werden“(Anstötz 1988, 370). Nicht nur ihre biologische Sensibilität, sondern auch Lernfähigkeit und Potenz zur Persönlichkeitsentwicklung erweisen sich selbst unter der verspätet gebotenen Chance.
Die Annahme einer unteren Grenze der Bildbarkeit— sollte sie überhaupt als humane Denkfigur und gar als Voraussetzung für das Recht zu leben gelten dürfen(siehe Jonas 1990)?— taugt demnach immer weniger als Kriterium für den Ausschluß von(heil-) pädagogischer Betreuung.
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