Klaus Esser
Das mitarbeiterzentrierte Fallgespräch
Rahmenbedingungen
Wann wird ein mFG angesetzt?
Je nachdem, wie die Strukturen der Gruppe oder der Einrichtung beschaffen sind, wird das Fallgespräch von den Mitarbeitern oder von einer leitenden Person angeregt. Im Einzelfall kann die Anregung auch vom Berater kommen. Sinnvoll und der Qualität eines Fallgesprächs zuträglich ist, nicht erst beim Auftreten von offen zutage tretenden Problemen ein mFG anzusetzen(Feuerwehr-Funktion), sondern in regelmäßigen Abständen zu jedem Betreuten Fallgespräche durchzuführen. Nach meiner Erfahrung ist ein Fallgespräch über einen„unproblematischen‘“ Betreuten oft fruchtbarer. Es scheint eine Tendenz zu geben, die Aufmerksamkeit auf Auffälligkeiten und Störfälle zu lenken. Die häufige Folge davon ist, daß die Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse der NichtAuffälligen zurückgedrängt wird. Das Empfinden, auf diese Weise in einen Teufelskreis der Verstärkung von problematischem Verhalten hineinzugeraten, wird von den Mitarbeitern selbst oft ausgedrückt.
Es scheint bei den Behinderten aller Schweregrade eine sehr sensible Wahrnehmung— eine Art„sozialer Antenne“— für die Reaktionsweisen der Mitarbeiter zu geben, z.B. auf welche Vorkommnisse er stärker oder schwächer reagiert, welche Verhaltensweisen ihn besonders belasten, wo er ängstlich oder unsicher reagiert. Diese besondere Fähigkeit im Erspüren affektiver Reaktionen ist meines Erachtens eine fast zwangsläufige Folge der Abhängigkeit, in der der geistig behinderte Mensch— je stärker die Behinderung, um so umfassender die Abhängigkeit— lebt. Aufgrund dieser subtilen Prozesse sollten Fallgespräche regelmäßig stattfinden.
Zeit und Raum
Eine Zeitstunde sollte mindestens zur Verfügung stehen und mehr als zweieinhalb Stunden sind die Obergrenze. Für ein mFG, das im Heim- oder Klinikbe
trieb in der Regel in der Überschneidungszeit von Früh- und Spätdienst angesetzt werden wird, sollte nur ein Betreuter auf der Tagesordnung stehen. Unter Umständen kann es jedoch sinnvoll sein, einen ganzen Tag oder ein Wochenende zur intensiven Besprechung mehrerer Fälle anzusetzen. Als Besprechungsort ist ein neutraler Raum außerhalb der Wohngruppe vorzuziehen, zum einen um Störungen zu reduzieren, zum anderen, um das Sich-Einlassen auf eine neue Situation zu erleichtern,
Protokoll
Von jedem Fallgespräch wird ein Protokoll angefertigt, in dem die Ergebnisse, aber auch einige Anmerkungen zu den Hintergründen bzw. zur Arbeitshypothese(Verhaltensbeurteilung/Verhaltensanalyse) vermerkt werden. Das Protokoll dient als Gedankenstütze und als Grundlage für das nächste Fallgespräch, in dem die Ergebnisse des letzten nachgefragt und auf Veränderungen hin überprüft werden können(Feed-back).
Vorbereitung
Die fallbezogenen Unterlagen sollten allen Mitarbeitern vor dem Fallgespräch zugänglich sein. Bei ersten Fallgesprächen empfielt es sich, zu Beginn einen Überblick über den Entwicklungsverlauf zu geben. Das kann durch den Berater geschehen, sollte aber nach Möglichkeit durch einen Mitarbeiter erfolgen. Liegen Unterlagen über spezielle diagnostische Befunde oder bereits durchgeführte therapeutische Maßnahmen vor, sollte der Berater sich vorab soweit informieren, daß er den Mitarbeitern diese Informationen zugänglich machen kann. Bei einem großen Maß an Informationen, Berichten und Daten kann es sinnvoll sein, diese vorab zu strukturieren.
Wenn es sich um ein Folge-Fallgespräch handelt, liegt das letzte FallgesprächsProtokoll vor.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 4, 1990
Teilnehmer
Häufig wird die Frage gestellt:„Soll der betroffene Behinderte nicht dabei sein?“ Im Vorfeld von Fallgesprächen reagieren manche der Betroffenen mit steigender Unruhe und Aggressionen, einige Fragen direkt und offen:„Über wen redet ihr?“ Nach meiner Erfahrung konnte selten durch eine persönliche Anwesenheit des Betreuten diese Spannung gelöst werden. Vielmehr verhindert die im Raum stehende Spannung den Beratungsprozeß, der auf die Mitarbeiter zielt. In Einzelfällen kann eine zeitweise Anwesenheit— zum Beispiel am Schluß des Fallgesprächs— dazu genutzt werden, mit dem Betreuten neue Absprachen zu treffen und ihm gezielte Informationen zu geben bzw. seine Meinung zu bestimmten Fragen zu hören. Dadurch kann Spannung gelöst werden, der Betreute fühlt sich einbezogen und ernst genommen. Wichtig ist jedoch in dieser Situation, daß der Berater oder ein Mitarbeiter die Rolle eines Moderators einnimmt, der das Maß an Informationen, die Dauer der Anwesenheit je nach der Befindlichkeit des Betreuten festlegt und damit strukturiert.
Die Mitarbeiter der Gruppe sollten möglichst vollzählig sein. Fallgesprächs-Zeit ist Dienstzeit. Die Weitergabe von Informationen an Mitarbeiter, die nicht teilgenommen haben, geschieht durch das Fallgesprächs-Protokoll und mündlich. Es hat sich jedoch gezeigt, daß Absprachen und Vorgehensweisen von Mitarbeitern konsequenter und ernsthafter durchgeführt werden, die auch den Prozeß der Entscheidungsfindung miterlebt und-beeinflußt haben.
Daher ist es auch sinnvoll, andere häufig anwesende Betreuungspersonen— Aushilfen, Nachtwachen, Praktikanten und Zivildienstleistende— ins Fallgespräch einzubeziehen.
Die Einbeziehung weiterer Personen, die außerhalb der Wohngruppe mit dem Behinderten befaßt sind(Lehrer, Werkstattmitarbeiter, Pfleger etc.) ist dann sinnvoll und notwendig, 1. wenn es Konflikte mit diesen Personen oder Institutionen gibt, 2. wenn klare Fragestellungen vorliegen, die diese Bereiche mit
159