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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Klaus Esser ­

dersetzungen darüber, werRecht hat, werden unterbunden mit dem Hinweis auf die wertfreie Subjektivität eigener und fremder Wahrnehmung. Interpreta­tionen und Wertungen werden deutlich von der Beobachtung getrennt. Auch diese Aussagen werden nicht alsfalsch gewertet, sie werden nur zurückgestellt und im zweiten Schritt des mFG behan­delt. Das Augenmerk beim ersten Schritt liegt auf möglichst detaillierter Schilde­rung der Beobachtungen. Ziel ist die Tren­nung des Beobachteten vom Beobachter, die besonders in Problemsituationen anfänglich schwer fällt. An dieser Stelle kann es sinnvoll sein, Beobachtungsbö­gen zu erstellen, die beim nächsten Fall­gespräch zur Auswertung vorliegen. Zum einen schulen diese Bögen die Beobach­tung, zum anderen wirken sie im Sinne einer Distanzierung: Der sonst unmittel­bar am Geschehen beteiligte und ein­greifende Mitarbeiter hält sich durch die neue Beobachter-Rolle stärker zurück. Es ist schon vorgekommen, daß nach der Erstellung eines Beobachtungsbogens das problematische Verhalten nicht mehr auftrat.

Für erste Fallgespräche ist eine medizi­nische Diagnose nötig, um evtl. vorhan­dene Krampfleiden sowie zusätzliche Körper- und Sinnesbehinderungen zu be­rücksichtigen. Oft ergeben sich hier be­reits die ersten Fragen, die zu weiterer Informationsbeschaffung(z,B. Nachfra­ge bei den Eltern) oder zu einer fachärzt­lichen Abklärung führen.

Weitere Informationsquellen können sein: Berichte von der Werkstatt, der Schule, von früheren Aufenthalten in anderen Einrichtungen, fachärztliche bzw. psychologische Gutachten, Eltern­fragebogen, auch Berichte von Therapeu­ten, wenn bereits spezielle Maßnahmen durchgeführt wurden.

Die Frage, ob es sinnvoll ist, die Mitar­beiter vor der Aufnahme des Betreuten mit der Akte zu konfrontieren, kann nicht generell beantwortet werden. Im Rahmen einer Kurzzeiteinrichtung, in der eine große Fluktuation der Betreu­ten zu einem häufigen Umgang mit Ak­ten und Berichten führt, setzte sich bei den Mitarbeitern eine gewisse Resistenz gegenüber Diagnosen und Verhaltenszu­

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Das mitarbeiterzentrierte Fallgespräch

schreibungen durch, da häufig die Erfah­rung gemacht wurde, daß sich dieInfor­mationen aus den Unterlagen nicht be­stätigten.

Der Zusammenhang zwischen auffälli­gem Verhalten geistig Behinderter und ihrer Entwicklungsgeschichte, dem so­zialen Milieu bzw. den familiendynami­schen Zusammenhängen wird heute nicht mehr bestritten. Es ist ein Stück schwer errungener Normalisierung, wenn wir die Verhaltensauffälligkeiten geistig behinderter Menschen nicht als typisches Symptom der Behinderung begreifen, sondern als Hilferuf, als Ausdruck einer Krise oder psychischen Überbelastung sehen denen allerdings die geistig Be­hinderten häufiger ausgesetzt sind(Jung­las, 1990).

Auf diesem Hintergrund ist es für den Berater wichtig zu vermitteln, daß auf­grund der Vorinformationen keine Pro­gnose auf das Verhalten des Betreuten bei einer Aufnahme in eine neue soziale Umgebung gemacht werden kann. Das spontane Ausbleiben der als problema­tisch beschriebenen Verhaltensweisen ist ebenso zu beobachten wie eine Verstär­kung, Vermilderung oder Verschiebung vonSymptomen.

Der Schritt ‚Information mündet meist in verschiedene Fragestellungen ein. Wel­che Informationen fehlen noch? Können sie beschafft werden und wie? Welche Fragen bleiben offen? Auf welches Ver­halten achten wir in Zukunft: verstärkt? Die Frage, warum sich ein Behinderter in einer für uns unverständlichen Art und Weise verhält, führt zum nächsten Schritt im Ablauf des mFG.

2. Schritt: Hypothesenbildung

Dieser Schritt ist meines Erachtens der Wichtigste im ganzen Beratungsprozeß. Dabei wird er am ehesten leichtfertig übergangen.-Mit dem Hinweis, daß alles reine Spekulation sei und der unge­duldigen Frage nach den praktischen, konkreten Verhaltensweisen(Was soll ich denn nun machen, wenn A. den Rollstuhl von B. umkippt?) wird aus der Beratung ein Ratschlag.

Es ist vielmehr notwendig, daß sich je­der beteiligte oder betroffene Mitarbei­ter damit beschäftigt, was er selbst meint oder glaubt, warum A. sich so verhält. Es besteht gerade bei auf­fälligem Verhalten, das für den beteilig­ten Mitarbeiter nicht nachzuvollziehen ist die Tendenz, sich selbst das Ver­halten zu erklären. Diese Erklärungen werden im Kollegenkreis diskutiert und drücken nicht selten die persönliche Be­troffenheit des Betreuers aus:A. will, daß ich mich um ihn kümmere, daß ich reagiere,A. macht auf sich aufmerk­sam, will mehr Zuwendung, will im Mit­telpunkt stehen,Wenn ich so eine Mutter hätte wie A., würde ich auch Rollstühle umkippen etc. Auch die Be­ziehungen der einzelnen Mitarbeiter zum Betreuten werden in den Erklärungsver­suchen deutlich. Identifikationen lassen das Verhalten A.s verständlich erschei­nen, Zuschreibungen wieA. macht das nur, um mich zu provozieren drücken eher den Wunsch nach Distanz und Ab­grenzung aus, den der Mitarbeiter aus in­nerer Betroffenheit heraus nicht umset­zen kann. Es soll an dieser Stelle betont werden, daß diese Art der Auseinander­setzung mit dem schwierigen Verhalten als normaler und notwendiger Prozeß der Bewältigung angesehen und nicht mit Bewertungen belegt wird.

In der Phase der Hypothesenbildung geht es darum, diese quasi ‚persönliche Hypothese jedes einzelnen Mitarbeiters mit ins Fallgespräch einzubeziehen, sie wertneutral zu reflektieren, damit der Mitarbeiter sein Verhalten nicht als zwangsläufige Folge des Verhaltens des Betreuten sieht, sondern durch das Zu­lassen der eigenen Inneren Beteiligung sich vom Geschehen distanzieren lernt. Gegenseitiges Vertrauen, daß die per­sönlichen Eindrücke nicht mißbraucht werden, sind hier ebenso notwendig wie die Akzeptanz der persönlichen Grenze jedes Einzelnen. Dieser Teil des mFG soll helfen, die Vorbehalte, Betroffen­heiten und das Empfinden, überfordert zu sein, anzunehmen. Durch das Zulas­sen dernegativen Empfindungen den Betreuten gegenüber(Wut, Ärger, Ekel) wird die Diskrepanz zwischen dem pro­fessionellen Auftrag(Annahme und un­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 4, 1990