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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Klaus Esser ­

Das mitarbeiterzentrierte Fallgespräch

terschiedslose Betreuung der Behinder­ten in der Wohngruppe) und dem per­sönlichen,privaten Erleben(Unzu­länglichkeit, Frustration, Hilflosigkeit, Unsicherheit) des Mitarbeiters verringert. Professionalität in der Betreuung behin­derter Menschen ist dementsprechend nicht das möglichst distanzierte Ver­hältnis zwischen Mitarbeiter und Betreu­tem, sondern daß der Mitarbeiter sich immer wieder darauf einläßt, seine gan­ze Person mit dem gesamten Spektrum des Erlebens in die Betreuung und in die Reflexion über die Betreuung einzubrin­gen. Gelingt das nicht oder fehlt die Be­reitschaft dazu, müssen immer mehr Maßnahmen festgelegt werden, um die problematischen Betreuungssituationen zu bewältigen. Dies beginnt bei der Fest­legung von Regeln, an die die Betreuten sich halten müssen und Konsequenzen, die alle Betreuer gleich durchführen müssen. Das Festlegen von Wenn.../ Dann...-Sanktionen und die stärkere Einengung der Grenzen des Erlaubten kann im Einzelfall durchaus hilfreich sein, ist aber häufig der erste Schritt zur Distanzierung, die über verschiedene Therapieversuche(Medikation, Beratung/ Behandlung durch Psychologen etc.) schließlich zurVerlegung desuntrag­baren,nicht gruppenfähigen Behin­derten führen kann.

Was geschieht nun mit der Hypothese? Ein Beispiel: In einem FG sagt eine Mit­arbeiterin:Die Moni zieht sich immer in ihr Zimmer zurück. Das macht sie sicher deshalb, weil sie damit zuhause auch erreicht hat, was sie wollte. Näm­lich daß die Mutter zu ihr ins Zimmer kam und sich mit ihr beschäftigte. Das erwartet die Moni jetzt auch von mir. Sie wußte nicht, wie sie reagieren sollte, weil es noch andere Betreute in der Gruppe gab, die intensive Betreuung und Beschäftigung brauchten. Da die Beob­achtung der anderen Mitarbeiter den Zimmerrückzug nicht bestätigten, wurde auch die Erklärungs-Hypothese in Frage gestellt. Im weiteren Gesprächsverlauf wurde deutlich, daß diese Mitarbeiterin sich besonders um ein behindertes Mäd­chen bemühte, die das Nachbarzimmer von Moni bewohnte und in der sich die Mitarbeiterin häufig und lange aufhielt.

Die gemeinsame Hypothese zum Ab­schluß des Gesprächs war, daß Moni das Verhalten ihrer Nachbarin(Rückzug ins Zimmer) nachahmte, um die Mitarbei­terin zu ebensolcher Aufmerksamkeit zu bewegen. Es wurde keine konkrete Maß­nahme vereinbart. Beim nächsten Fall­gespräch berichtete die Mitarbeiterin, sie habe die Aufmerksamkeit für Monis Nachbarin stärker in die Gruppenräume verlagert und Moni miteinbezogen. Der Rückzug Monis in ihr Zimmer sei da­durch automatisch verringert worden. Die erste Hypothese, daß Monis Ver­halten aus ihrer Erfahrung mit der Mut­ter zusammenhinge, ließ der Mitarbeite­rin keinen Handlungsspielraum. Sie konnte sich so verhalten, wie die Mutter es ihrer Ansicht nach tun würde und da­mit dem Wunsch Monis nachkommen. Sie hätte dann aber gegen ihr Empfin­den gehandelt, da sie sich den anderen Betreuten ebenso zuwenden wollte. Oder sie konnte nicht in Monis Zimmer ge­hen, damit hätte sie jedoch dem Bedürf­nis Monis eine vollständige Absage er­teilt, was sie auch nicht richtig fand. Erst die zweite Hypothese eröffnete weitere Perspektiven. Als eine andere Mitarbeiterin von der Möglichkeit der Nachahmung sprach, kam der betrof­fenen Mitarbeiterin ihr Verhalten zu Monis Nachbarin zu Bewußtsein. Sie überprüfte auf dem Hintergrund der ge­nannten Hypothese ihr eigenes Verhal­ten und entwickelte eigene durchführ­bare Verhaltensalternativen.

Neue Hypothesen helfen, von Vorurtei­len und eingefahrenen Erklärungsmu­stern abzurücken und machen Platz für Einführung und Verständnis. Empathie mit dem Betreuten wird erreicht durch ein größeres Verständnis für die eigenen Reaktionen und Empfindungen.

3. Schritt: Konsequenzen

Aus den vorhergehenden Schritten soll­ten sich wie im Beispiel die Konse­quenzenorganisch, quasi von selbst ergeben. Fehlende Informationen wer­den eingeholt und werden im nächsten Fallgespräch einbezogen. Die Wahrneh­mung bzw. Beobachtung der Mitarbei­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 4, 1990

ter wird durch die Hypothese auf be­stimmte Schwerpunkte gelenkt. Die Mit­arbeiter entwickeln im Fallgespräch oder infolge dessen eigene Ideen, Angebote oder Verhaltensmöglichkeiten, die für sie persönlich durchführbar und umsetz­bar sind. Aus der Erfahrung, daß einzel­ne Betreuer bestimmte Verhaltensauffäl­ligkeiten als schwieriger und problema­tischer erleben als andere ergibt sich, daß es nicht unbedingt erforderlich ist, daß eine gemeinsame Entscheidung ge­fällt undalle an einem Strang ziehen. So wie die meisten behinderten Men­schen differenziert agieren und reagie­ren, je nachdem, wen sie vor sich haben, ist aus der Sicht ihres Erlebens ein glei­ches, gemeinsames Vorgehen der Betreu­er ohnehin eine Illusion. D.h. nicht, daß Absprachen im Gruppenteam nicht hilf­reich und notwendig wären. Nur sollte man sich im klaren darüber sein, daß die abgesprochenen Maßnahmen ‚,Krücken für den pädagogischen Alltag sind und zwar im Sinne von Hilfsmitteln für die Kommunikation der Mitarbeiter unter­einander.

Im Rahmen der Möglichkeiten der In­stitution sollte schließlich überprüft werden, ob die angebotenen Arbeits-, Beschäftigungs-, Förder-, Therapie- und Freizeitangebote den Möglichkeiten und Bedürfnissen des Betreuten Rechnung tragen.

Therapeutische Begleitung oder spezielle Förderung kann in diesem Zusammen­hang durchaus als unterstützend und hilfreich angeregt werden. Die Erfahrung und Kontakte aus diesen Bereichen soll­ten ins nächste mFG einfließen.

Störungen

Es gibt unausgesprochene Haltungen, mit denen die Beteiligten des Fallgesprä­ches in dasselbe eintreten, die den Bera­tungsprozeß nachhaltig beeinflussen kön­nen, Einige entpuppen sich als gut funk­tionierende Mißverständnisse wie das bereits erwähnte SpielSage mir, was ich tun soll und ich beweise Dir, daß es nicht funktioniert die als Arbeitsbe­schaffungsmaßnahme für den Berater

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