Jens Wienhues- Krankenpädagogik
der Helfer und ihrer Klienten in direktem Zusammenhang stehen.
Von wenigen Einzelaktivitäten abgesehen, entstanden Sozialpädagogik, Heilpädagogik und Krankenpädagogik als Antwort auf die soziale Lage breiter Bevölkerungsschichten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit der Errichtung von Heilanstalten und Erholungsheimen wurde zunehmend über Fragen von Erziehung und Bildung der dort lebenden Kinder und Jugendlichen nachgedacht. Als Ergebnis entstand eine breite Palette von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, die trotz ähnlicher Aufgabenstellung oft nur wenig Kontakt miteinander hatten. Behindertenpädagogik und Krankenpädagogik können für diese Zeit weder institutionell noch begrifflich voneinander abgegrenzt werden, weil das Wort„Behinderung“ im heutigen Verständnis damals noch nicht benützt wurde und „Krankheit“ über ein stark erweitertes Begriffsspektrum verfügte.
Krankheit wurde als„„deskriptiver Sammelname für die Erziehung aller Geschädigten‘“(Bleidick 1982, 51) in der zeitgenössischen Literatur und noch bis weit ins 20. Jahrhundert verwendet.
Im medizinischen wie im allgemeinen Verständnis setzte sich in jener Zeit die Auffassung durch, daß Krankheit, sofern sie als medizinisch behandlungswürdig erachtet wurde, Erwerbstätigkeit und Schule ausschließe(vgl. Wienhues 1979, 25—28). Konsequenterweise wurden akut und chronisch erkrankte Schüler(darunter auch„Behinderte“ im heutigen Verständnis) vom Schulbesuch ausgeschlossen. Diese verschwanden somit (temporär oder dauernd) aus dem Blickfeld der Allgemeinpädagogik.
Nicht aus dieser heraus, sondern im Zuge der Differenzierung der Armenhilfe entstand die Heilpädagogik als„Ausgesondertenpädagogik‘“(Kobi 1984, 26ff.), nachdem erkannt wurde, daß die Armut bestimmter Personen(gruppen) mit kör
perlichen Schädigungen(Blindheit, Taubstummheit, Verkrüppelung, Geistesschwäche) zusammenhing.
Geleitet von der Erkenntnis(oder der Hoffnung), durch geeignete medizinische und/oder pädagogische Maßnah
men die körperliche, geistige oder psychische Verfassung positiv beeinflussen zu können, erwuchs„eine Folge von Schulgründungen, die jeweils den Umschlag einer bewußt oder stillschweigend vollzogenen sozialpolitischen Einsicht in notwendige pädagogische Maßnahmen erkennen lassen“(Möckel 1979, 120). Diese, auf privater Basis und in Internatsform gegründet(vgl. Solarova, 1983), standen in engem Zusammenhang mit einer Berufsausbildung und waren auch deshalb von dem neuhumanistischen Bildungsideal der damaligen universitären Allgemeinpädagogik weit entfernt. Heilpädagogik befaßte sich unter erzieherischen, medizinischen und caritativen Gesichtspunkten, ohne daß genaue Abgrenzungen zwischen den entsprechenden Wissenschaftsgebieten vorgenommen wurden, mit Kindern und Jugendlichen, die„krankheits-‘“ oder„(schul-)schwächebedingt‘ aus dem allgemeinen Erziehungs- und Bildungssystem herausfielen. Später erst erfolgte eine Begriffsverengung(vgl. Bleidick 1972, 24ff.) auf die Hilfsschulpädagogik, während gleichzeitig die Blinden- und die Taubstummenpädagogik diesen Begriff ablehnten und in Anlehnung an die korrespondierenden medizinischen Fächer die Ausbildung ihres Berufsnachwuchses an den Hochschulen etablierten.
Die Entwicklung der Orthopädie und ihre Installation als selbständiges medizinisches Lehrfach Ende des 19. Jahrhunderts(Gründung der ersten Körperbehindertenanstalt mit den drei Bereichen Klinik, Schule und Berufsausbildung 1866) leitete die Gründung von orthopädischen Heilanstalten(Merkens 1981, 74 ff.) ein.
Körperbehindertenund Krankenpädagogik
Lag der Schwerpunkt in den orthopädischen Kliniken auf(medizinischer) Heilung, so lag er in den kurze Zeit später entstehenden Krüppelheimen im Bereich der(caritativen) Pflege, Versorgung und Betreuung. Mit der Zielsetzung,„auch den körperbehinderten Menschen auf der Grundlage sorgfältiger Pflege, medi
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 4, 1990
zinischer Versorgung und Erziehung sowie unter Ausnutzung der ihm verbleibenden Fähigkeiten ein nützliches, bürgerlich geachtetes Leben führen zu lassen‘(Wilken 1983, 233), näherten sich beide Formen in der Folgezeit einander an und verschmolzen in der Form der orthopädischen Heil- und Pflegeanstalt in Einzelfällen miteinander.
Die sich in diesen Einrichtungen entwikkelnde„Anstaltspädagogik‘‘ für„kranke‘‘ körperbehinderte Menschen war einerseits von medizinisch-rehabilitativen Gesichtspunkten, andererseits von christlich-konfessionellen Grundanschauungen geprägt.
In diesem Bereich lassen sich Körperbehinderten- und Krankenpädagogik bis heute nicht klar voneinander abgrenzen. Seit etwa 1930 setzte sich der Begriff_Körperbehindertenpädagogik durch, ohne daß sich neue pädagogische Zielvorstellungen oder Interaktionsformen ergaben. Erst mit der Einrichtung der Tagesschule für Körperbehinderte verlagerte sich der Arbeitsschwerpunkt. Damit war zugleich eine Annäherung an andere sonderpädagogische Fachrichtungen und an die allgemeine Schulpädagogik verbunden.
Mit der Herausarbeitung der Bedeutung der Motorik für die Anthropologie und Psychologie körperbehinderter Schüler in den sechziger Jahren definierte die Körperbehindertenpädagogik sich zugleich als eigenständige Fachrichtung in der Sonderschullehrerausbildung. Sie entwickelte erste originäre pädagogische Ansätze und schaffte damit zugleich den Anschluß an die Blinden-, Gehörlosenund Sprachbehindertenpädagogik. Mit dem Auszug aus den Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten verschwanden allerdings mehr und mehr die krankenpädagogischen Belange aus dem Blickfeld ihrer Forschung und Theoriebildung.
Außer einigen marginalen Unterrichtsangeboten für Studenten der Körperbehindertenpädagogik war Krankenpädagogik in der Lehrerausbildung und der sonderpädagogischen Theorie Anfang der siebziger Jahre faktisch nicht existent.
In der Praxis war dieser Bereich anzusehen als ein Sammelsurium(mit mehr als 30 unterschiedlichen Bezeichnungen
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