Jens Wienhues- Krankenpädagogik
heitsbegriff** definitiv verzichtet: ‚Die Krankenpädagogik hingegen stellt den sinnhaften Krankheitsbegriff des Individuums nicht in Frage, sie setzt vielmehr an den sozio- und psychodynamischen Bezügen des Einzelnen, seines Krankheitsbegriffs und seiner Krankheitan....“
Verfolgt man den aufgewiesenen Weg weiter, gelangt man nur wieder zu einer vergleichbaren Situation wie vor 100 Jahren, als das, was heute pädagogisch als„Behinderung‘“ verstanden wird, als Teilmenge der„chronischen Krankheiten‘ aufgefaßt wurde(wie heute noch in medizinischen Lehrbüchern zu finden).
Wer definiert Krankheit
Definitionsmacht, Fremdbestimmung zu übernehmen heißt ja nicht zuletzt auch, dieses und die Folgen zu verantworten. Die Definition von Krankheit als„„Behandlungswürdigkeit durch einen approbierten Arzt‘, die unterschwellig den gängigen Beschreibungsversuchen unterliegt(Arbeits(un)fähigkeit, Krankenversicherung etc.), stattet diesen Berufsstand mit einer ungeheuren Machtfülle aus, übergibt ihm jedoch auch maßgelbiche Verantwortung für das Gemeinwohl. Damit aber die Medizin auf einem bestimmten Gebiet tätig werden darf, müssen schlimmstenfalls neue„Krankheiten‘“‘ erfunden und benannt werden, denn gesunde Menschen darf der Arzt nicht behandeln(vgl. jedoch die Gesundheitsdefinition der WHO).
Der Schritt von der ‚„‚Ausgesondertenpädagogik‘“(Kobi 1984) zur„Aussonderpädagogik‘“ ist gerade dann nicht groß, wenn(bei zurückgehender Schülerzahl) die Sonderpädagogen ihre eigenen Auslesekriterien(mit)bestimmen. Die Hospitalisation ist, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen(z.B. zur Abklärung, welcher Schultyp nach einem Hirntrauma geeignet ist), Voraussetzung für die pädagogische Betreuung und nicht die Folge. Gerade weil der Pädagoge keine Verantwortung über Aufnahme und Entlassung, krankhiets- oder therapiebedingte Einschränkungen und Schmerzen hat, kommt er mit dem Patienten oft zu ei
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ner besonders intensiven Beziehung, zumal er im Medizinsystem auch nur über unbedeutend mehr Macht verfügt als dieser.
Das Unikum der Doppelbeschulung (meist werden die Schüler nur dann formal zur Krankenhausschule angemeldet, wenn diese rechtsgültige Zeugnisse ausstellen soll), bei dem die Schüler sozusagen mit einem Bein in der Krankenhausschule(Sonderschule), mit dem anderen in ihrer Heimatschule(Regelschule) stehen, dokumentiert die Rolle der Krankenhausschule als Stütz- und Übergangsschule. Diese Aufgabenstellung ist zwar auch anderen Sonderschularten zugedacht, weil diese aber die Rückschulung selbst bestimmen können(die Definitionsmacht haben), bleibt die Quote oft hinter den Erwartungen zurück. Akuterkrankung und Hospitalisation (als temporär limitierter Sonderstatus) und pädagogische Betreuung(als Hilfestellung, ohne formales sonderpädagogisches Auslesekriterium) entsprechen einander in Hinblick auf Aufenthaltsort und Zeitdauer. Wenn ein Schüler längere Zeit schulbesuchsunfähig, aber jedoch unterrichtsfähig ist, kommt die Schule zu ihm.
Trotzdem haben weder die Schüler noch die Erziehungsberechtigten die Wahlfreiheit bzw. Definitionsmacht. Diese ist und bleibt nicht nur an das jeweils vorherrschende medizinische Verständnis von Krankheit gebunden, sondern wird in jedem Einzelfalle hinsichtlich Umfang und Dauer vom behandelnden Arzt bestimmt. Daran ändert sich vorläufig nichts, auch wenn Theis(1989, 174) fordert:„Die Fremdbestimmung über den (potentiell) kranken Menschen zeigt sich etwa darin, daß Begriff, Diagnose und Behandlung von Krankheit der Medizin überlassen oder gar an diese delegiert werden... Krankenpädagogik strebt die Überwindung dieses Zustandes an: Die einzelnen und die betroffenen Gruppen sollen so gesund wie möglich sein können und so krank sein dürfen, sie sollen selbst entscheiden, was sie darunter verstehen.“
Krankenpädagogik und Emanzipation
Zu dieser Zielsetzung hat die Krankenpädagogik in den letzten 20 Jahren kaum etwas beigetragen. Die Krankenhausschule gar hat weder sich selbst, noch ihre Schüler von der Medizin emanzipiert. Warum sollte sie auch? Krankheit als Faktum ist nicht generell in Frage zu stellen und die Medizin ebensowenig, soviel Kritik auch hinsichtlich der Begriffsbildung und Terminologie, der Ansprüche wie der praktischen Durchsetzung derselben durch die Medizin angemeldet werden kann.
Der Weg der Krankenpädagogik war pragmatischer, eigenwilliger. Mit dem Zurückgehen der Anstaltspädagogik, auf dem Höhepunkt der Emanzipationsbestrebungen der betroffenen sonderpädagogischen Fachrichtungen von Medizin und Theologie ist sie geradewegs in die Kinderkliniken immigriert. Als viele Sonderschulen zu Großeinrichtungen anwuchsen, wurden meist Zwergschulen, einklassigen Landschulen vergleichbar, auf den Kinderstationen von Allgemeinkrankenhäusern und Spezialkliniken gegründet.
Diese Gegenbewegung war allerdings nur möglich, weil einerseits durch die Profilierung eines eigenständigen Sonderschultypus mit entsprechender Bewußtseinsbildung bei den Lehrern, in der Fachund öffentlichen Diskussion, die Kräfte zusammengefaßt werden konnten und andererseits gerade durch das eigenständige Sonderschulwesen in der BRD der fachliche und institutionelle Rückhalt gewährleistet werden konnte. In der Tat sind bis heute der Klinikpfarrer und der Krankenhauslehrer die einzigen(akademisch ausgebildeten) Mitarbeiter, die nicht der medizinischen Fachaufsicht unterstehen und nicht strukturell in das autoritäre Sozialgefüge der Klinik eingebunden sind.
Arzt und Pädagoge Diese einfache Grundvoraussetzung der
Zusammenarbeit ist von vielen Medizinern bis heute nicht erkannt worden,
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 4, 1990