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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Christoph Anstötz*

Ethik der Heilpädagogik und das Recht auf Leben

tionale, d.h. aber auch kontroverse Dis­kussion fundamentaler ethischer Fragen ausschlägt und die derzeit geltenden Wertauffassungen sozusagen heilig­spricht, reduziert damit die Ethik letz­ten Endes auf juristisch-soziologische Probleme und macht sich zum Befürwor­ter eines juridischen Positivismus in dem Sinne: Wer die Macht hat, hat das Recht. Eine weitere problematische Folge der Suspendierung rationaler Prinzipien in der Ethik würde darin bestehen, daß in einer moralisch unklaren Situation die Entscheidung nicht auf der Grundlage von Argumenten gefällt wird, sondern zugunsten desjenigen, der im Besitz der wirksameren psychologischen Strategien ist, um seinen Standpunkt durchzuset­zen. Daß im Nationalsozialismus beide Verfahren, also Macht- und psychologi­sche Druckmittel verwandt wurden, um eine rationale Normendiskussion mit Andersdenkenden zu umgehen, wird man kaum bestreiten können. Um so er­staunlicher ist die Feststellung, daß 50 Jahre danach sich zwar die Inhalte der Moral radikal verändert haben, be­stimmte Umgangsformen mit morali­schen Problemen aber demgegenüber ei­ne Zählebigkeit aufweisen, die einmal ei­ner eigenen psychologischen Untersu­chung wert wäre.

Wenn wir in der Heilpädagogik Fragen ernsthaft bis auf den Grund gehen wol­len, warum und inwieweit unsere päd­agogische Arbeit mit behinderten Men­schen moralisch gerechtfertigt ist, auf welche Weise unser Respekt vor dem Le­ben schwerstbehinderter Menschen zu legitimieren ist, benötigen wir weder Schlagwörter noch andere propagandi­stische Mittel. Es genügt im ethischen Kontext auch nicht der Verweis auf den Buchstaben des Gesetzes, über dessen moralische Kreditwürdigkeit als letzte Rechtfertigungsinstanz uns die national­sozialistische Ära ja in beeindruckender Weise Auskunft gegeben hat; es ist gera­de in Bezug auf den letzten Punkt inter­essant zu erwähnen, daß im Grundgesetz nicht ohne Absicht von Gesetz und Recht die Rede ist, was in cinem weite ­ren Zusammenhang von Moral und Ge­setz zu sehen ist(vgl. Anstötz 1989 be­sonders 85 ff.)! Was wir benötigen, sind

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rationale Argumente, die in einer repres­sions- und tabufreien Atmosphäre ausge­tauscht werden können, wobei es keinen Grund gibt, sich über die im Ausland be­reits seit langem vorliegenden Ergebnisse solcher Diskussionen wie bisher hinweg­zusetzen. Michael Tooley ist Vertreter einer Ethikrichtung, die sich durch eine analytische Vorgehensweise auszeichnet und sicher zu den liberalsten ethischen Strömungen zählt, wenn wir die bei uns geltenden Maßstäbe einmal zugrundele­gen. Dabei wird die Liberalität nicht durch Dogmatisierung bestimmter Ent­scheidungen bewirkt, sondern durch lo­gische Konsequenzen aus offengelegten Prämissen. Tooleys oder vergleichbare Standpunkte der deutschsprachigen Heil­pädagogik zur Kenntnis zu bringen, könnte dazu beitragen, den Anschluß an die internationale Diskussion herbeizu­führen; damit wäre die Chance gegeben, aktiv an der Gestaltung der Moral mitzu­wirken, die eigenen Ethikpositionen selbstkritisch zu durchleuchten, um schließlich zu reiferen und fundierteren Urteilen zu kommen.

Die Rechte-Ethik Michael Tooleys

Recht auf Leben einer Zygote, eines Embryos, eines Feten, eines Neugeborenen,

eines erwachsenen Menschen?

Gewiß sind Rechte nicht alles in der Ethik. Wenn aber, wie bei dem in unse­rem Lande so häufig zitiertenRecht auf Leben diese ethische Konstruktion ei­ne wesentliche Rolle in der Begründung unserer pädagogischen Sorge um schwer Behinderte spielt, ist es zweifellos von Nutzen, eine zu dieser Thematik ausge­arbeitete Position, wie die von Tooley in Augenschein zu nehmen. Er hat sie 1972 in der ZeitschriftPhilosophy and Pub­lic Affairs entwickelt und später(1973, 1979 und 1985) weiter verfeinert. Die folgende Darstellung basiert im wesentli­chen auf der ursprünglichen Arbeit, in der die entscheidenden Argumentations­bestandteile, die hier interessieren, be­reits dokumentiert sind.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG

Gegen Abtreibung und Kindestötung wird oft als ausschlaggebendes Argument das Recht auf Leben geltend gemacht, das der werdende Mensch, ob beschädigt Oder nicht, bereits im Mutterleib besitzt (vgl. etwa Arts 1987 und andere Aufsät­ze in der Sammelschrift von Stolk, Eg­berts 1987). Tooley untersucht die Kon­ditionen, die prinzipiell erfüllt sein müs­sen, um ein ernsthaftes Recht auf Leben zu besitzen. Er kommt vorweggenom­men zu dem für uns zunächst äußerst befremdlichen Ergebnis, daß weder Fe­ten noch Neugeborene noch auch schwer Geistigbehinderte diese Bedingungen er­füllen. Dagegen führt er Gründe an, die zeigen sollen, daß erwachsene Mitglieder anderer Spezies die fraglichen Bedingun­gen sehr wohl erfüllen können und so­mit ein Recht auf Leben haben.

Wer die Abtreibung eines werdenden menschlichen Lebewesens in Gestalt der Zygote, des Embryos oder des Fetus er­laubt, kommt in große Schwierigkeiten, einen moralisch stichhaltigen Grund da­für anzugeben, daß das Töten eines gera­de geborenen menschlichen Lebewesens verwerflich ist. Die räumliche Tatsache allein, ob sich also das werdende Leben innerhalb oder außerhalb des Mutterlei­bes befindet, ist zwar psychologisch be­eindruckend, aber nicht moralisch rele­vant. Auch das objektive Reifestadium kann im Zusammenhang mit der Geburt nicht von Bedeutung sein, da ein zu früh geborenes Baby weniger entwickelt sein kann als ein übertragener Fetus. Auch in anderen Begründungszusammenhängen funktioniert die Geburt als eine eher magische als moralische Grenze. Diese Funktion teilt sie nach Tooleys(1972, SO ff.) Auffassung mit anderen Demar­kationslinien, die unter Hinweis auf die Konzeption, die Vitalität, die Motilität und andere Ereignisse in der Entwick ­lung des werdenden Menschen gelegent­lich vorgeschlagen werden. Wenn sich solche Trennlinien als unhaltbar erwei­sen sollten, muß derjenige, der die Kin­destötung ablehnt, auch die Abtreibung ablehnen und umgekehrt, wer die Ab­treibung für moralisch erlaubt hält, ist gezwungen, dies auch im Hinblick auf die Tötung eines neugeborenen Men­schen zu billigen.

Band XV, Heft 3, 1989