Christoph Anstötz*
Ethik der Heilpädagogik und das Recht auf Leben
In diesem letzten Falle aber folgt sofort die weitere Frage: Wenn das Töten des werdenden Menschen in Gestalt der Zygote, des Embryos, des Fetus oder des Neugeborenen erlaubt sein soll, gibt es dann moralische Gründe, das Töten eines erwachsenen Menschen zu verbieten? Innerhalb des Tooleyschen Systems gibt es Argumente, die darauf hinauslaufen, einer„Person“ aufgrund bestimmter Qualitäten das Recht auf Leben zuzusprechen. Diese Gründe zu diskutieren, ist von theoretischem Interesse, die praktische Bedeutung liegt nach Tooley (1972, 39) auf der Hand:„Die meisten Menschen ziehen es vor, Kinder zu haben, die nicht unter schweren Mißbildungen und gravierenden physischen, emotionalen oder geistigen Behinderungen leiden. Wenn es sich zeigen läßt, daß es keinen moralisch relevanten Grund gegen Kindestötung gibt ,könnte das Wohlergehen der Gesellschaft insgesamt bedeutend und moralisch legitim angehoben werden“. Zur Beurteilung solcher Überlegungen erscheint es wichtig, die konditionale Struktur des zweiten Satzes zu berücksichtigen, die Rückführung der Begründung auf die ethischen Prämissen erst einmal abzuwarten, welche dann natürlich jeder möglichen Kritik ebenso zugänglich sind wie die Begründungsprozedur selbst.
„Person“ und „menschliches Lebewesen‘
Der Personbegriff wird auch in der deutschsprachigen Literatur meist in einem moralischen Sinne verwendet, so daß damit besondere Ansprüche und Rechte verbunden sind(etwa Bleidick 1984, 5S5ff.), insbesondere aber ein Recht auf Leben. Wo der Personbegriff auf erwachsene Menschen bezogen wird, gibt es wenig Schwierigkeiten. Diese entstehen jedoch bei frühen Entwicklungsstadien, etwa der embryonalen oder fetalen Phase oder auch beim Vorliegen einer schweren geistigen Behinderung, und zwar in dem Falle, wo mit der Verwendung des Begriffs Person, wie bei Tooley und anderen, auch ganz bestimmte rationale Eigenschaften verbunden wer
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG
den. Gemeint sind beispielsweise Selbstbewußtsein, Zeitgefühl, Urteilsvermögen etc. Sind diese nicht vorhanden, können nach solchen ethischen Konzeptionen auch die moralischen Ansprüche, die mit dem Personbegriff verbunden werden, nicht mehr ohne weiteres aufrechterhalten werden. Diese Konsequenz möchte man in solchen heimischen Rechtfertigungsverfahren, in denen der Personbegriff mitunter ebenfalls mit rationalen Qualitäten verbunden wird, jedoch unter allen Umständen, oft sogar unter Preisgabe argumentativer Nachvollziehbarkeit verhindern; es ist bemerkenswert zu sehen, mit welchen Mitteln und Wegen man versucht, die daraus entstehenden logischen und empirischen Probleme zu lösen(vgl. Anstötz 1988). Stets geht es darum, jedem biologischen Wesen, das zur Gattung Mensch gehört, besondere moralische Ansprüche einzuräumen.
Gleichgültig jedoch, wie man im einzelnen begrifflich vorgeht, die Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies allein kann nicht ohne stichhaltigen Nachweis, worin das Besondere des Menschseins liegt, als moralisch relevant angesehen werden. Diese Begründungsforderung ist an jede ethische Position, nicht nur an die von Tooley zu richten, die einen universalen Geltungsanspruch macht. Wer sich allerdings in der Lage sieht, Dogmen einen legitimen Platz innerhalb seines ethischen Systems einzuräumen, wie das bei christlichen und auch anderen Weltanschauungen der Fall ist, braucht sich über diesen Punkt keine weiteren Gedanken zu machen, da dieses Problem systemimmanent etwa durch die Idee eines Schöpfergottes geregelt werden kann. Innerhalb einer rationalen Ethik müssen nach Tooley zunächst zwei grundsätzliche Fragen beantwortet werden: Erstens, was sind die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um von einer Person zu sprechen, die ein Recht auf Leben hat? Zweitens, wann sind diese Bedingungen bei einem Lebewesen erfüllt? Die erste Frage ist eine moralische, die zweite cine faktische. Was nun Tooley (1972,44) im!Hinblick auf die erste Frage zeigen will, ist folgendes:„Ein Organismus besitzt dann und nur dann ein
Band XV, Heft 3, 1989
ernsthaftes Recht auf Leben, wenn er das Konzept eines Selbst als ein in der Zeit existentes Subjekt mit Erfahrungen und anderen geistigen Eigenschaften besitzt und sich selbst als ein solches Subjekt betrachtet.‘“ Er beginnt seine Prämissensetzung und analyse in Anlehnung an die ethische Theorie von Brandt (1959):
„A hat ein Recht auf X“ ist etwa bedeutungsgleich mit„Wenn A X wünscht, dann besteht für andere die prima facie Verpflichtung, alles zu unterlassen, das dem entgegenstehen würde.“ Wenn man „wünschen“ rein verhaltensmäßig interpretiert, dann kommt man zunächst nicht umhin, daß auch einem modernen Kraftfahrzeug mit Bordelektronik gewisse Rechte zugestanden werden müssen, dann nämlich, wenn entsprechende Signale den nächsten Ölwechsel verlangen, das Auswechseln der Bremsklötze oder das Nachfüllen von Batteriewasser. Auch neuere Kopierer, die ihren Wunsch„Bitte Papier nachfüllen“ oder„Bitte Münzen einwerfen‘“ explizit artikulieren oder auch Pflanzen, die ihr Bedürfnis nach Licht oder Wasser ebenfalls unmißverständlich mitteilen können, hätten demnach gewisse Rechte. Das„Wünschen“ ist also dahingehend zu präzisieren:„A hat ein Recht auf X“ bedeutet, „A ist von der Art eines Subjekts mit Erfahrungen und anderen geistigen Eigenschaften, A ist fähig, X zu wünschen, und wenn A X wünscht, dann besteht für andere die prima facie Verpflichtung, alles zu unterlassen, was diesen Wunsch vereiteln würde“(Tooley 1972,45). Die se Festsetzung läßt sich nun auf das fragliche„Recht auf Leben“(aber natürlich nicht nur darauf) anwenden, wobei„Le ben“ nicht in einem rein organischen Sinne gemeint ist, sondern als selbstbewußte Existenz verstanden werden soll, die an das Vorhandensein bestimmter geistiger Eigenschaften gebunden ist:„A ist ein Subjekt mit Erfahrungen und anderen geistigen Eigenschaften, A ist fähig, sich eine fortgesetzte Existenz als Subjekt mit Erfahrungen und anderen geistigen Eigenschaften zu wünschen. Wenn A den Wunsch hat, eine solche Existenz fortzuführen, dann besteht eine prima facie Verpflichtung für andere,
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