Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
130
Einzelbild herunterladen

Christoph Anstötz ­

es daran nicht zu hindern(Tooley 1972,46).

Der kritische Punkt ist hier der, daß das Spektrum der theoretisch möglichen Wünsche durch die verfügbare Kapazität auf logische Weise begrenzt wird. So ist die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, Voraussetzung für den Wunsch nach Schmerzvermeidung, aus dem sich nach der oben skizzierten Prämissenstruktur ein Recht ergibt, nicht gequält zu wer­den. Das Recht auf Leben aber geht dar­über hinaus. Ohne ein Selbstkonzept zu haben, ist auch der Wunsch nicht mög­lich, ein selbstbewußtes Leben fortzu­führen. Demzufolge ist ein Recht auf Leben nach dem Rechtsbegriff von Too­ley unter solchen Bedingungen nicht ge­geben. Damit ist die Begründung abge­schlossen, daß eine notwendige Bedin­gung, um ein Recht auf Leben geltend machen zu können, kurz gesagt die ist, über ein entsprechendes Selbstbewußt­sein zu verfügen. Diese Begründung geht, noch einmal zusammengefaßt davon aus, daß ein Recht etwas ist, das verletzt werden kann und daß im allgemeinen die Verletzung eines Rechts den damit involvierten Wunsch des Betreffenden frustiert(Tooley 1973, 60). Wo nun die Fähigkeit, sich ein selbstbewußtes Leben zu wünschen wie bei einer Zygo­te, beim Embryo oder einem Fetus of­fenbar nicht vorhanden ist, kann dem­entsprechend auch ein Recht auf Leben, welches einer Person mit Selbstbewußt­sein und anderen geistigen Eigenschaf­ten zukommt, nicht vorhanden sein und also auch nicht verletzt werden. Daß ei­ne derartige Argumentation auch zur Behandlung anderer, hier nicht zu be­sprechender moralischer Probleme wie Selbsttötung, Sterbehilfe etc. verwendet werden kann, liegt auf der Hand. Im vor­liegenen Fall interessiert nun die Ant­wort Tooleys auf die Frage, wo die mo­ralische Grenze zu ziehen ist, ab der ein solches Recht auf Leben begründet an­genommen werden kann.

130

Ethik der Heilpädagogik und das Recht auf Leben

Ab wann ist ein Lebewesen eine Person und besitzt damit ein Recht auf Leben?

Nachdem die moralisch relevanten Be­dingungen vorgezeigt wurden, die ein Recht auf Leben konstituieren, ist die eingangs erwähnte, faktische Frage zu behandeln, ab wann in einer ja kontinu­ijerlichen Entwicklung des Individuums diese Konditionen erfüllt sind. Kenn­zeichnend für Ethiken mit Rationalitäts­anspruch ist die Bereitschaft, dort, wo faktische Probleme auftauchen, entspre­chende wissenschaftliche Erkenntnisse heranzuziehen, um ethische Entschei­dungen auch im Hinblick auf ihren sach­lichen Gehalt zu fundieren. So verweist Tooley an dieser Stelle auf die Bewußt­seinspsychologie, die auf empirischem Wege zu ermitteln hätte, ob bzw. ab wann in einer Normalentwicklung oder auch in einer retardierten bzw. gestörten Entwicklung von dem Vorhandensein ei­nes Selbstbewußtseins ausgegangen wer­den kann. Was jedoch bereits die Alltags­beobachtung deutlich zeigt ist, daß ein gerade geborenes menschliches Baby ebensowenig über ein Selbstkonzept ver­fügt wie ein neugeborenes Kätzchen. Wenn das zutrifft, dann muß während einer kurzen Zeitspanne nach der Geburt die Kindestötung moralisch vertretbar sein(Tooley 1972, 63). Den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, hält Tooley deswegen für praktisch nicht so bedeut­sam, weil in der Mehrzahl der Fälle, wo eine Kindestötung überhaupt wünschens­wert ist, dieser Wunsch bis spätestens kurz nach der Geburt feststeht. Bis psy­chologische Untersuchungen genauere Erkenntnisse dahingehend bieten ‚schlägt er deshalb den Zeitraum von einer Wo­che nach der Geburt vor, innerhalb des­sen Kindestötung erlaubt sein soll(Too­ley 1972, 64), und zwar ganz unabhän­gig davon ‚ob das Baby normalentwickelt ist oder nicht.

Die meisten Pädagogen werden ethische Auffassungen dieser Art schockierend finden, vor allem dann, wenn sie mit der­artigen Diskussionen vorher nicht in Be­rührung gekommen sind. Um aber zu ei­nem fundierten Urteil zu kommen, soll­te man sich klar machen, daß solche ver­

ständlichen emotionalen Reaktionen na­türlich ihren sozial-Kulturellen Hinter­grund haben, den als solchen in Rech­nung zu stellen unumgänglich ist. Too­leys Überlegungen sind im übrigen kei­neswegs neu. Ähnliche Vorschläge fin­det man bereits bei Aristoteles(1959, 322 f.; zur Kindestötung in anderen Kul­turen vgl. auch Kuhse, Singer 1985, 98 ff.):Über Aussetzung und Aufzucht der Kinder sollte ein Gesetz bestehen, das die Aufzucht verstümmelter Kinder verhindert. Was den Kinderreichtum be­trifft die gewohnte Ordnung verbietet ja die Aussetzung schon Geborener, so ist die Zahl der Kinder zu beschrän­ken, und wenn darüber hinaus der Ver­kehr Folgen hat ‚ist die Auslöschung vor­zunehmen, bevor(!) das Kind Wahrneh­mungsvermögen und Lebenskraft hat: Dann wird man dem Brauch und dem Umstand Rechnung tragen, daß noch kein durch Wahrnehmung und Lebens­kraft besonderes Wesen da war. Der Verweis auf die Tradition oder auf Wert­vorstellungen anderer Kulturen legiti­miert natürlich nicht das Mindeste. Wohl könnte er dazu beitragen, die eigenen ethischen Maßstäbe stärker auch von ih­rer sozial-kulturellen Eingebundenheit her zu betrachten und vielleicht auch die empirischen Folgen einer ethischen Praxis zur Kenntnis zu nehmen, die mit unseren Auffassungen vom menschli­chen Leben so gänzlich unvereinbar er­scheinen. Wie dem Kommentar zu unse­rem Strafrecht von Schönke und Schrö­der, speziell dem TeilStraftaten gegen das Leben zu entnehmen ist, ist gerade in Bezug auf Grenzsituationen des Le­bens auch in unserem Lande die gesetzli­che bzw. rechtliche Situation alles ande­re als klar und eindeutig und bedarf, worauf auch das umfangreiche Schrift­tum hinweist, der weiteren rechtsphilo­sophischen Diskussion(Schönke, Schrö­der 1988, Vorbem.$8 221 ff., besonders auch Rdnr. 32a, b).

Die Konsequenzen der ethischen Posi­tion von Tooley, die eine enge Verbin­dung von Fähigkeiten, Wünschen und Rechten zugrundelegt, führen aber noch weiter. Wenn man die Prämissen tatsäch­lich akzeptieren würde, daß nämlich Selbstbewußtsein eine notwendige Be­

HEILPÄDAGOGISCHIE FORSCHUNG Band XV, Heft 3, 1989