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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Christoph Anstötz*

Ethik der Heilpädagogik und das Recht auf Leben

dingung für ein Recht auf Leben ist, dann kommt man nicht umhin im Falle eines schwerstbehinderten Menschen, der diese Fähigkeiten nicht besitzt und niemals besitzen wird, der also weder Person noch werdende Person ist, folgen­des zu bedenken:Es scheint plausibel festzustellen, daß, zumindest für sich be­trachtet, die Zerstörung(destruction) ei­nes solchen Organismus nicht verwerfli­cher sein kann als die Zerstörung eines nichtmenschlichen Lebewesens, welches keine Person ist(Tooley 1979, 65). Die Folgerungen, die in radikalem Kon­trast zu den in der Behindertenpädago­gik geltenden Wertvorstellungen stehen, zeigen eine weitere Konsequenz auf, die eingangs bereits erwähnt wurde: Bei An­erkennung solcher Prämissen müßte dar­über hinaus zugegeben werden, daß nicht-menschliche erwachsene Lebewe­sen, die über Selbstbewußitsein verfügen und eine viel differenziertere Vorstellung über ihre zukünftige Existenz besitzen als ein gerade geborenes menschliches Baby oder auch ein schwerstbehinderter Mensch, ein Recht auf Leben haben; es wäre zuzugeben, daßunsere tagtägliche Behandlung von Tieren moralisch nicht gerechtfertigt werden kann, daß wir in der Tat unschuldige Personen ermorden (Tooley 1972, 65).

Dies sind Folgerungen, die bei Heilpäd­agogen natürlich nicht ohne Widerspruch bleiben werden. Tooley(1972, 1979, 1985) selbst hat sich mit zahlreichen Einwendungen auseinandergesetzt, die gegen seine ethischen Prämissen häufig ins Feld geführt werden. Besonders die­jenigen Pädagogen, die sich seit Jahr­zehnten darauf verlassen haben, daß in dem Umstand, zur Spezies Homo sapiens zu gehören, der alles entscheidende mo­ralische Vorsprung gegenüber allen ande­ren Lebewesen unseres Kosmos gegeberı ist, werden Gründe vorlegen müssen, die geeignet sind, den eigenen Standpunkt zu verteidigen bzw. die Tooleysche Ar­gumentation, die in ähnlicher Form auch bei anderen zu finden ist, zu kritisieren.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG

Gerade die Sonderpädagogen, die in der Theorie oder auch in derPraxis mit schwerstbehinderten Menschen zu tun haben, kommen unausweichlich mit ethi­schen Grundsatzfragen wie dem Recht auf Leben, dem Sinn menschlichen Le­bens etc. in Berührung. Das geschieht entweder dadurch, daß sie sich diese an­gesichts der menschlichen Grenzsitua­tion selbst stellen oder auch dadurch, daß sie ihnen von Eltern schwerstgeschä­digter Kinder gestellt werden;schließlich besteht auch in gewissem Sinne eine Rechtfertigungspflicht gegenüberunbe­teiligten Mitgliedern der Gesellschaft, die vielleicht ganz andere, z.B. auch öko­nomische Interessenschwerpunkte set­zen möchten, und bei denen man eben nicht für alle Zeit davon ausgehen kann, daß die Notwendigkeit einer Pädagogik für schwerstbehinderte Menschen ohne weiteres anerkannt wird(vgl. Anstötz, 1987, 71 f.). Was in dieser Hinsicht not tut, ist eine rationale Rechtfertigung ei­ner Pädagogik für Schwerstbehinderte, wie sie vom Verfasser dieses Beitrages kürzlich versucht wurde(Anstötz 1988). Einen Informationsbedarf im Hinblick auf ethische Argumentationen also wird man nicht bestreiten können und Stolk (1988; vgl. auch Anstötz 1989) kann für sich das Verdienst in Anspruch neh­men, als einer der ersten im deutschen Sprachraum auf die angloamerikanische Diskussion um das Recht auf Leben im Zusammenhang mit der Lebensqualität geistigbehinderter Menschen hingewie­sen zu haben. Dennoch ist bei der Auf­forderung zu einer bislang fehlenden kri­tischen Auseinandersetzung mit ethi­schen Grundsatzfragen der Schwerstbe­hindertenpädagogik an Beiträge seiner Art gerade nicht gedacht. Es führt nur zu Mißverständnissen ‚wenn Stolk glaubt, der Ethikposition Tooleys mit Hilfe ei­niger abschreckender Konsequenzen bei­kommen zu können, und zwar ohne dem Leser auch nur einen entfernten Eindruck von deren Herleitungen und Rückführung auf die relevanten Prämis­

Band XV, Heft 3, 1989

sen zu vermitteln. Selbst die hier vorge­stellten Ausführungen können nicht mehr als eine Anregung bieten, sich mit der Auffassung Tooleys und ähnlichen Standpunkten im Rahmen der normati­ven Heil- und Geistigbehindertenpädago­gik eingehender auseinanderzusetzen. Hansjosef Buchkremer wird im folgen­den Beitrag die Tooleysche Position in einigen Punkten einer kritischen Analy­se unterziehen. Vom Verfasser der vor­liegenden Darstellung wird daraufhin untersucht, ob Buchkremers Kritik dem Tooleyschen Anliegen gerecht wird, wo eventuell Mißverständnisse vorliegen oder verschiedene ethische bzw. meta­ethische Grundentscheidungen bei Too­ley bzw. Buchkremer anzutreffen sind. Es wäre absolut verständlich, wenn De­batten wie die vorliegende, die in der an­gloamerikanischen Literatur seit Jahren geführt werden, bei davon bislang unbe­rührt gebliebenen Pädagogen Befürchtun­gen auslösen. Deshalb ist es vielleicht nützlich zu betonen, daß für die norma­tive Praxis der Heilpädagogik die in den jeweiligen Ländern verfassungsmäßig ver­ankerten Wertesysteme verbindliche Geltung besitzen, in unserem Falle das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Speziell auf das Thema des vorliegenden Aufsatzes bezogen gilt der Artikel 2, Absatz 2, Satz l:Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Weder Philosophen noch Ethiker noch auch Heilpädagogen sind befugt, in diese Praxis einzugreifen, denn in Satz 2 desselben Absatzes von Artikel 2 heißt es:In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegrif­fen werden(Hervorhebung C.A.), das heißt: nur auf demokratischem Wege! Wie Moral und geschriebenes Recht zu­sammenhängen ‚ist, wie schon in der Ein­führung erwähnt, ein eigenes Thema, das einer selbständigen und aus gegebenem Anlaß wohl auch einmal einer ausführli­cheren Bearbeitung bedarf.

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