Christoph Anstötz*
Entgegnungen auf Buchkremers Kritik
Die gemeinsame Anerkenntnis der Forderung nach rationaler Argumentation ist natürlich noch keine Garantie für eine fehlerfreie Durchführung des Verfahrens. Aber Buchkremer kritisiert, wie gesagt, weder die Forderung als solche, noch zeigt er logische Fehler oder empirische Mängel in der Begründungskette von Tooley auf. Es geht ihm also offen bar ausschließlich um die ethischen Prämissen:„So exakt die auf sie folgenden Schlüsse auch immer sein mögen, es verhält sich wie bei einer langen Knopfreihe, bei der der erste Knopf im falschen Loch sitzt: Die Reihe bleibt bis zum Ende falsch geknöpft...‘“(Buchkremer 1989, 133). Da also Buchkremer die Schlußfolgerungen Tooleys unangetastet läßt, kann sich die folgende Diskussion auf die Frage nach den„letzten“ ethischen Prämissen beschränken oder, mit Buchkremers Worten, auf die Frage: Wer knöpft den ersten Knopf?
Antworten auf die Frage nach den ethischen Prämissen
Buchkremer macht es dem kritischen Leser nicht leicht, indem er bei seiner Erwiderung eine Vielzahl philosophischer Probleme anschneidet, von denen hier nur einige zentrale behandelt werden können. Grob lassen sich die von ihm angesprochenen Dissonanzen in solche einteilen, die objektsprachlicher Natur sind und solche, die auf der metasprachlichen Ebene anzusiedeln wären. Beide Aussagenarten zu vermengen, bedeutet den sicheren Weg in die Verwirrung. Hier wird es im wesentlichen um eine metaethische Diskussion gehen, die sich insbesondere mit der Analyse der Begründungsverfahren Buchkremers befassen soll und weniger mit seinen konkreten ethischen Absichten. Diese sind natürlich insoweit direkt betroffen, als Buchkremer, wie eben betont, mit mir der Meinung ist, daß ethische Entscheidungen einer rationalen Rechtfertigung bedürfen und solche Ansichten zu kritisieren sind, die nicht oder nicht überzeugend begründet werden. Buchkremer lehnt sowohl den Inhalt von Tooleys
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG
Prämissen ab als auch die von Tooley und anderen rationalen Ethikern eingenommene Auffassung zum Status ethischer Grundnormen.
Tooley(1972) macht in dem von mir hauptsächlich herangezogenen Artikel den Vorschlag, Rechte generell von der Fähigkeit abhängig zu machen, sich das wünschen zu können, worauf eben das jeweilige Recht geltend gemacht werden soll. Wenn man sinnvoll von der Verletzung eines Rechts sprechen will, muß nach dieser Ethikkonzeption auch grundsätzlich die Möglichkeit vorhanden sein, die mit diesem Recht verbundenen Wünsche zu enttäuschen. Kann ein solcher Wunsch nicht bestehen, kann auch kein dazu korrespondierendes Recht verletzt werden. Man muß diese verhältnismäßig einfach erscheinende ethische Grundkonstruktion Tooleys durchaus nicht teilen. Trotz erheblicher Plausibilität, die sie als ethischer Ausgangspunkt für sich in Anspruch nehmen kann, gibt es doch unendlich viele und vor allem komplexe Schwierigkeiten der praktischen Umsetzung, wie das nicht nur aus den Ausführungen Tooleys 13 Jahre nach dem Erscheinen seiner frühen Darstellung dieser Position hervorgeht(Tooley 1985). Gemeint sind hier rationale, nicht emotionale Probleme der tatsächlichen Anwendung. Es ist also bei dieser Ethik wie bei allen Ethiken auf rationaler Grundlage Ohne weiteres möglich, Gegenargumente vorzutragen, die irgendwo an einer Stelle in der Begründungskette den Hebel ansetzen, um auf sachbezogene bzw. logische Schwächen hinzuweisen. Selbstverständlich unterliegen auch die ethischen Prämissen selbst grundsätzlich der Möglichkeit kritischer Überprüfung, im Falle Tooleys jene Voraussetzungen, die von einer Verbindung zwischen Fähigkeiten zu wünschen und moralischen Rechten ausgehen.
Buchkremer beginnt seine Erwiderung nicht mit einer Kritik, sondern er macht zunächst— unter dem Zeichen„gegensätzlicher Prämissen‘-- einen Alternativvorschlag in Form folgender These: „Leben ist, weil es ist, es kann nicht unberechtigt sein‘(Buchkremer 1989, 134). Diese Aussage ist in der Tat überraschend. Sie ist deswegen überraschend,
Band XV, Heft 3, 1989
weil sie auf eine Art Argumentation zurückgreift, wie man sie wegen ihrer sehr eindringlichen und fast schon beschwörend wirkenden Einkleidung eher in Kirchenpredigten zu vernehmen gewohnt ist oder auch unter Umständen bei Kleinkindern Verwendung findet, wenn diese eine Erklärung abgeben sollen, die sie rational überfordert oder langweilt (warum ist denn dein Kleidchen so schön? Es ist so schön, weil es schön ist. Warum hast du Angst, in den Keller zu gehen? Ich habe Angst, weil ich Angst habe! Warum liest Du? Weil ich lese! etc.).„Leben ist, weil es ist...‘“ bietet eine durchaus zirkuläre Begründung, bei der das, was begründet werden soll, zur Begründung herangezogen wird. Damit aber ist auch der Rest der These„...es kann nicht unberechtigt sein“ in dem Fall ins semantische Zentrum getroffen, wo Buchkremer an einen wie auch immer gearteten inhaltlichen Anschluß an „Leben ist, weil es ist...“ gedacht hat. Während Tooleys Vorschlag, bei aller Kritisierbarkeit, durchaus MPausibilität für sich in Anspruch nehmen kann, erscheint das bei Buchkremers„gegensätzlichen Prämissen, wie gleich noch deutlicher wird, ungleich schwieriger festzustellen. In diesem Zusammenhang fügt er noch folgende ergänzende Belehrung hinzu:„Leben ist...ein Urphänomen prämoralischer Art. Es ist, weil es ist, nicht weil es berechtigt ist“(Buchkremer 1989, 134). Ich sehe nicht, wo in meiner Darstellung der Position Tooleys etwas derartiges behauptet worden wäre, nocht taucht ein solcher Fehlschluß, der die Tatsache des Lebens auf irgendwelche Rechte oder Berechtigungen zurückführt, soweit ich das übersehe, bei Tooley auf. Der Fall läge anders, wenn Buchkremer nicht die Tatsache des Lebens als solche, sondern die Entscheidung über die Existenz eines individuellen Lebens gemeint hätte.
Der Plan jedenfalls, eine Letztbegründung mit Hilfe, wenn man so will, zirkulärer Argumente zu bestreiten, führt in eine der drei philosophischen Sackgassen, die von Albert(1980, 13ff.) als „Münchhausen-Trilemma‘ bezeichnet werden. Bei dem Versuch nämlich, eine letzte Begründung zu entwickeln, eine
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