Christoph Anstötz*
Entgegnungen auf Buchkremers Kritik
Begründung also, die einer weiteren Begründung nicht mehr bedarf, hat man demnach die Wahl zwischen
1. einem infiniten Regreß ‚einem Verfahren, das ohne Ende auf immer weitere Begründungen zurückgehen muß,
2. einem logischen Zirkel, einer Begründungsart, bei der in der Deduktionskette auf Bestandteile zurückgegriffen wird, die als begründungsbedürftig bereits vorher in Erscheinung getreten sind und
3. dem willkürlichen Abbruch des Begründungsverfahrens an einem Punkt, dem man dogmatisch den Status einer Letztbegründung verleiht. Alle drei Verfahren sind unter rationalen Gesichtspunkten unakzeptabel und damit auch Buchkremers Konstruktion letzter ethischer Prämissen.
Es ist aber noch auf weitere Fehler hinzuweisen, die Buchkremers Begründungsprozedur zu enthalten scheint. An verschiedenen Stellen seiner Ausführungen läßt er keine Unklarheit darüber aufkommen, daß mit der entstehenden Existenz menschlichen Lebens das Lebensrecht gleichsam als eine Art Eigenschaft automatisch mitgeliefert wird, womit implizit oder auch explizit die Forderung verbunden ist, dieses Recht in der Praxis des menschlichen Zusammenlebens zu respektieren:„Das Lebendige hat das Recht zu leben, weil es lebt...“(Buchkremer 1989, 134). Zum einen ist der Sinn dieser Aussagenkombination unvereinbar mit seiner früher erwähnten These vom Leben als„prämoralisches Gut‘, wenn ich die Vorsilbe„prä-‘“ richtig verstanden habe. Zum anderen ist die Aussagenkombination als solche fehlerhaft. Insofern Buchkremer nämlich daran denkt, aus der Tatsache menschlichen Lebens bestimmte Rechte, hier das Recht auf Leben, abzuleiten, also aus deskriptiven Vorgaben eine normative Konklusion herzustellen— und eine Reihe seiner Ausführungen spricht dafür, daß er genau dies anstrebt—, macht er sich eines klassischen naturalistischen Fehlschlusses schuldig, der eigentlich nur von solchen Pädagogen in Kauf genommen werden kann, die von vornherein auf den Anspruch einer rationalen Argumentation verzichten. Das aber tut Buchkremer, wie eingangs Zu sehen war,
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ja gerade nicht. Im übrigen dürfte es Buchkremer schwerfallen, seine ethischen Prämissen wirklich durchzuhalten; schon beim ersten Arztbesuch, bei dem er sich Antibiotika verschreiben läßt, würde er gegen seine eigenen Prinzipien verstoßen, wenn er diese tatsächlich so allgemein verstanden haben will, wie er das sprachlich zum Ausdruck gebracht hat.
Wer mit Rückgriff auf fehlerhafte Ableitungen vom Faktum menschlicher Existenz auf weitreichende moralische Ansprüche kommt, ist verständlicherweise auch leicht geneigt, einen Wertabsolutismus zu vertreten, wie er in naturrechtlichen Anschauungen und anderen Weltinterpretationen mit irrationalen Bestandteilen enthalten ist. In diesen Auffassungen ist es, kurz gesagt, nicht der Mensch selbst, der das natürliche bzw. kreatürliche Leben so oder so auszeichnet, mit bestimmten Ansprüchen versieht oder eben auch nicht, sondern eine von Menschen unabhängige Instanz nicht-natürlicher Art. Metaethisch handelt es sich bei solchen Positionen, die neben dem Diesseits ein Jenseits postulieren oder auf andere Weise die Realität verdoppeln, oftmals um einen Platonismus(Albert 1979). Wenn Buchkremer (1989, 134) die Inanspruchnahme eines Schöpfergottes zur letzten Rechtfertigung moralischer Entscheidungen ablehnt und gewissermaßen den Naturrechtsgedanken dagegen eintauscht, gewinnt er metaethisch überhaupt nichts. Aus der Sicht eines kritischen Realismus, der eine wissenschaftliche Weltsicht betont, ist die moralische Regelung des menschlichen Zusammenlebens in dieser Welt weder mit Hilfe einer göttlichen noch einer naturrechtlichen letzten Instanz zu legitimieren.
Das Entwerfen, Verbessern, Vergleichen, Bewähren Mmoralischer Regelsysteme sind Unternehmungen, die die Menschen selbst durchzuführen haben, und zwar, wie das von rationalistischer Seite vorgeschlagen wird, unter Verwendung metaethischer Kriterien, die auf die„Berücksichtigung menschlicher Bedürfnisse, die Erfüllung menschlicher Wünsche, die Vermeidung unnötigen, menschlichen Leidens, die intrasubjektive und inter
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG
subjektive Harmonisierung menschlicher Bestrebungen‘(Albert 1979, 513) Bezug nehmen. Auch Kriterien dieser Art, die sich nicht nur auf die Gattung Homo sapiens, sondern auf alle empfindungsfähigen Lebewesen beziehen lassen(Singer 1984), müssen„erfunden und festgesetzt werden, wie das auch für die Kriterien des wissenschaftlichen Denkens gilt“ (Albert 1979, 513). Der Einbau theologischer, naturrechtlicher und anderer dem Zweifel grundsätzlich entzogener Bestandteile verschafft den Inhabern solcher Denkansätze bestimmte erkenntnisund entscheidungsmäßige Privilegien, deren Vorzug vor allem darin zu bestehen scheint, daß bestimmte Thesen in der Prämissenmenge der kritischen Diskussion entzogen werden können. Die Kritik, daß man es hier letzten Endes mit einer Dogmatisierung zu tun hat, wird, wie auch im Falle Buchkremers, allenfalls gegenüber gegnerischen Auffassungen in Anschlag gebracht.
Die Neigung, der eigenen Position Konzessionen einzuräumen, die anderen Standpunkten verweigert werden, ist jedoch bei Buchkremer nicht nur gegenüber theistischen Auffassungen zu finden, sondern auch im Hinblick auf rationalistische Positionen: ‚, So skeptisch ich bin, wenn die Lehrer der Religionen, welcher Herkunft auch immer, zu wissen glauben, daß es ‚Gott gefallen habe, einen aus unserer Mitte zu nehmen‘, noch skeptischer bin ich, wenn im Gewande der Rationalität Ethiker wähnen, grundsätzlich entscheiden zu können, wer ein Recht auf Leben hat und wer es nicht hat“(Buchkremer 1989, 134). Buchkremer übersieht, daß er in seinem engagierten Plädoyer ebenfalls eine Entscheidung darüber trifft, wer ein Recht auf Leben besitzt. Es ist überdies interessant zu verfolgen, wie klar und entschieden er für ein unbedingtes Recht auf Leben eintritt, wenn es um menschliche Lebewesen geht. Im Hinblick darauf erscheinen ihm bereits die„Gedanken über die Tötung von Zygoten, Embryonen, Säuglingen und Schwerstbehinderten“ als „krude*(Buchkremer 1989, 137), d.h. als roh, grausam, rücksichtslos. Was die übrigen nichtmenschlichen Lebewesen angeht, so beschränkt er sich auf die va
Band XV, Heft 3, 1989