Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
148
Einzelbild herunterladen

schiedene biologische Aspekte, von de­nen her man an soziale Ausgrenzungs­phänomene herangehen kann(evolu­tionstheoretische ‚physiologische ,gehirn­biologische). Die bisherigen Ergebnisse, die vornehmlich an Tieren gewonnen worden sind, versprechen weitere Erfol­ge und legen Anwendungen auf die menschliche Sphäre nahe. Sie lassen sich nicht einfach durch Berufung auf sozial­und humanwissenschaftliche Eigenstän­digkeit abtun. Ein genauerer Nachweis der Unzulänglichkeit ihrer Erklärungslei­stung gegenüber einer sich in symbolisch vermittelten Wertungen erhaltenden So­zialität ist nicht so leicht zu führen. Er sei im folgenden versucht, weil es darauf ankommt ‚den naturwissenschaftlich bio­logischen Zugang zu sozialen Ausschlie­ßungsvorgängen von der ihm nicht of­fenstehenden soziokulturellen Seite des Phänomens so zu unterscheiden, daß die Gründe für die Unzulänglichkeit eines bestimmten naturwissenschaftlichen Zu­griffs sichtbar werden und Grenzen über­schreitende Argumentationsweisen aus­geschlossen werden.

Biologische Substrate, die selber seit ei­niger Zeit in keine Entwicklung mehr eingetreten sind, und ein von ihnen ge­tragenes tierisches Sozialleben verhin­dern nicht, daß sich im Spielraum sozio­kultureller Entwicklungsmöglichkeiten das Randgruppenbildungsproblem z.B. unter unseren heutigen menschlichen Wertungsaspekten ganz anders aus­nimmt, als wenn es im Rückbezug auf seine biologische Basis angegangen wird. Die biologische Forschungsweise, mit der ich mich auseinandersetze, ist, wie erwähnt, vornehmlich diejenige, die durch experimentelle Eingriffe in Orga­nismen Ursachen für soziale Verhaltens­phänomene aufzudecken versucht. Sie hat den Vorteil auf ihrer Seite, daß sie auf organismische Zustände und Vor­gänge zurückgreifen und von ihnen aus erklären kann, anstatt sich mit einer ganzheitlich-komplexen Verhaltensbe­schreibung zufriedenzugeben, die sich mit wissenschaftlich bescheideneren und fragwürdigeren Konstatierungen auf der Ebene komplexer-ganzheitlicher Lebens­situationen bescheiden muß. Nichtsde­stoweniger bleibt die auf den Einzel­

148

Ingrid Blanke* Ostrazismus als Preis von Vergemeinschaftung?

organismus bezogene experimentelle Er­forschung von Verhaltenseigentümlich­keiten grundsätzlich höherstufigem,sym­bolisch vermitteltem Verhalten gegen­über problematisch, wie im letzten Teil dieses Aufsatzes deutlich wird. Sie ver­fehlt dieses in seiner phänomenalen Ei­genart, in der es für die sich so verhal­tenden Wesen seinen Bestand hat, ohne daß diese ihre Lebenseigentümlichkeit zu Zwecken einer gewissen wissenschaft­lichen Erkenntnis auf eine andersartige Gegenstandsebene reduzierten, die im Symbolsystem einer Naturwissenschaft angemessen darstellbar ist.'

Biologische und soziokulturelle Voraussetzungen der Randgruppenbildung

Das Zusammenleben von Tieren hat nicht auf der umfassenden Ebene der Art oder gar der Gattung statt, sondern auf der eingeschränkteren Ebene von Populationen. Indem in Populationen zusammengelebt wird, findet auch Art­erhaltung statt. Aber so etwas wie Art­erhaltung ist nichts, was im Lebensum­kreis von Einzelwesen und ihren Inten­tionen vorkommt. Indem in Populatio­nen zusammengelebt wird, findet zu­gleich Abgrenzung gegen andere Popula­tionen derselben Art statt. Und soziale Beziehungen in einer Population, in der man zusammenlebt, sind Beziehungen zu bestimmten Gruppenangehörigen, die einer Gruppenordnung unterstehen, wel­che es für alle Mitglieder der Art als eine Einheit nicht geben zu können scheint.

' Buchkremer hat in seiner ArbeitVer­

ständnis für Außenseiter(1977) einen Überblick über die verschiedenartigen Erklärungsversuche und ihre Reichweite gegeben. Im folgenden sind nur moderne­re experimentelle soziobiologische For­schungen auf diesem Feld Thema. Für an­dere Zugangsmöglichkeiten zum Phäno­men sci auf Buchkremers übersichtliche, reichhaltige Arbeit hingewiesen. Trotz der Fortschritte der soziobiologischen For­schung bleibt es dabei, daß cin ausschließ­licher Erklärungsanspruch gegenüber den soziokulturellen und psychologischen Phä­nomenen unzureichend bleibt. Vgl. Buch­kremer 1977, 48 IT.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG

Die Gruppenordnung ist auch mitbe­stimmt durch ihre Abgrenzung gegen Mitglieder derselben Art, die außerhalb der Gruppe stehen.

Wir haben im Falle des Menschen zu spä­ter geschichtlicher Stunde das merkwür­dige Phänomen, daß im Namen des Men­schen und der Menschheit eine Art-um­fassende Einheit angestrebt wird. Aber dieses Phänomen verdankt sich dem Ideenpotential einer Art, die gewisse na­turhafte Gegebenheiten und auch Mög­lichkeiten zu überschreiten versucht und die im Namen von Ideen sich an ihrer naturhaften Mitgift, Sozialität und da­mit individuelles Leben nur in partiku­larer Pluralität verwirklichen zu können, stößt. Hier wird in der Tat durch Den­ken und Handeln die Erhaltung der Art angestrebt aber für einen irgendwie als gut beurteilten Lebenszustand.

Nähern wir uns dem Thema der Abson­derung und des Ausschlusses in Gruppen von der strukturellen Eigenart der oben erwähnten Populationen als Einheiten des Zusammenlebens von gleichartigen Individuen so, daß wir Gruppen gegen den Unterschied von tierisch und menschlich indifferent sein lassen. Sol­che Populationen pflegen Binnenstruk­turen aufzuweisen, durch die sich inter­ne Untereinheiten unterscheiden. Deren Existenz scheint für den Bestand von größeren Sozialordnungen erforderlich zu sein. Solche Untergruppen können statisch fixiert sein und durch die Wahr­nehmung bestimmter Aufgaben und Funktionen zum Bestand der ganzen Gesellschaft beitragen. Sie können aber auch in dynamischen Auseinanderset­zungen stehen, die die gesamte Popula­tion fortentwickeln oder auch gefährden können. Deren Flexibilität kann sehr unterschiedlich sein. Die Toleranzgrenze gegen Funktionsabweichungen kann sehr gering sein, so daß eine statische Stabilität vorliegt. Eine Großgruppe kann sich aber auch in einem dynami­schen Gleichgewicht erhalten, indem in ihr ständiger Austausch von Untergrup­penmitgliedern und Aufgabenwechsel von Untergruppen statthat.

Die Individuen, aus denen sich eine Ge­sellschaft zusammensetzt, sind, sozial ge­sehen, in die Bestandsbewahrung der

Band XV, Heft 3, 1989