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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Ingrid Blanke*

Ostrazismus als Preis von Vergemeinschaftung?

Gruppen einbezogen. Sie sind durch Gruppenzugehörigkeit bestimmt, ohne in ihrem Eigenen in dieser Zugehörigkeit aufgehen zu müssen, wie es bei Bienen und Ameisen der Fall zu sein scheint. Die angedeuteten dynamischen Grup­penbeziehungen, die eine Fortentwick­lung der Sozialordnung im Gefolge ha­ben, scheinen allerdings eher Menschen­gruppen vorbehalten zu sein.

Soziale Prozesse, die das Gegenteil von Vergemeinschaftung bedeuten, gehören mit Vergemeinschaftungsprozessen Zzu­sammen. Das liegt auf der Hand, wenn Vergemeinschaftung Gruppenbildung besagt, die sich durch Abgrenzung gegen eine bedrohliche, feindliche Außensphä­re vollzieht, die also, indem sie berück­sichtigt zu werden fordert, als Opposi­tion mit zur Lebensphäre gehört und so auf intern vergemeinschaftete Einzel­gruppen Einfluß ausüben kann. Wenn solche pluralen Gruppen-gegen-Grup­pen-Verhältnisse nicht vorliegen, gibt es die folgenden ‚hier nicht relevanten Mög­lichkeiten: Beziehungslosigkeit, Gleich­gültigkeit und Irrelevanz, Fremdheit, Feindschaft, Tötung. Solche Phänomene liegen jenseits der gruppenspezifischen Vorgänge des Absonderns und Ausschlie­ßens.

Im Rahmen von Einzelgruppen kommt es zu Isolierungen und Verdrängungen von Individuen wie von Untergruppen. Solche Vorgänge können wie im Falle der Außenabgrenzung auch zur Stabili­sierung der Gruppenordnung beitragen, denn es gibt soziale Ordnungen, die so verfaßt sind, daß sie nur aufgrund von Verdrängungs- und Ausschließungspro­zessen aufrechterhalten werden können. Dafür wird im zweiten Teil dieser Aus­führungen ein Beispiel gegeben. Aber die­se These läßt sich nicht ohne weiteres auf alle Organisationsformen von Grup­pen übertragen. Für die Vorgänge des Absonderns und Ausschließens inner­halb von Gruppen hat sich in angelsäch­sischen Forscherkreisen die Bezeichnung Ostracism, Ostracismus durchgesetzt (vgl. Gruter& Rehbinder 1986, 7f. u. Masters 1986, 20).(Vgl. dagegen Reh­binder 1986,237 ff.).Ostrazismus kann ... definiert werden als ein Verhaltens­muster, bei dem ein oder mehrere Indi­

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viduen herausgelöst und vom Geflecht sozialer Beziehungen, an dem sie sonst teilhaben, isoliert werden(Masters 1986, 257). Es wird im folgenden nicht nur aus Vereinfachungsgründen vom Be­griff Ostrazismus Gebrauch gemacht. Zwar muß offengehalten werden, daß die dem Begriff untergeordneten Prozes­se verschiedenartig sind und auch grund­verschiedene Ursachen haben können, aber der Begriff kann m.E. trotzdem ei­nen fruchtbaren systematischen Aus­gangspunkt für Differenzierungen im Be­reich der sozialen Aussonderungs- und Abweichungsphänomene bilden.

Es läßt sich die Möglichkeit nicht bestrei­ten, daß tierbiologische Forschungen auch für die Erforschung menschlicher Ostrazismusphänomene aufschlußreich sind(vgl. McGuire& Raleigh 1986, 72ff.). Evolutionstheoretisch gesehen ist zu erwarten, daß Zusammenhänge zwischen tierischem und menschlichem Sozialleben bestehen; denn mit der Un­terstellung der Einheit alles Lebendigen legt sich die Annahme nahe, daß soziale Ächtung(auch im Falle des Menschen) ein universelles biologisches Substrat hat; resp. mit dem Verhalten als einem auch biologisch realen, sozial organisierten Selbsterhaltungsvorgang verknüpft ist. Das würde zumindest besagen, daß Ostra­zismusphänomene auch eine Dimension haben, die noch keine kulturellen(mo­ralischen, rechtlichen) Eigentümlichkei­ten aufweist. In dieser biologischen Di­mension sollten sich die Ostrazismus­phänomene beschreiben und durch Rückbezug auf biologische Substrate und Prozesse, genetischer und neuraler Art, erklären lassen, wobei eine den Phä­nomenen zugehörige psychische Seite nicht geleugnet zu werden braucht. Also werden sich an Tieren auch für die menschliche Sphäre aufschlußreiche Aus­künfte gewinnen lassen. Tiergesellschaf­ten haben für die Wissenschaft den Vor­teil, leichter analysierbar zu sein als menschliche. In ihnen entfallen dem menschlichen Leben eigentümliche Kom­plikationsfaktoren. Vor allem sind Ticre experimentellen Eingriffen gegenüber ungeschützter.

Dagegen ist unter Kultur- und Sozialwis­senschaftlern die folgende Überzeugung

Band XV, Heft 3, 1989

verbreitet: Da eine verlorengegangene biologische Determiniertheit des Verhal­tens beim Menschen durch den sozio­kulturellenÜberbau, eine 2. Natur er­setzt worden ist, ist das Soziokulturelle in seiner Eigenart zu betrachten, wenn Ostrazismus in menschlichen Gesellschaf­ten verstanden und beurteilt werden soll. Aber diese Stellungnahme von sozial­und kulturwissenschaftlicher Seite ist zu grob, als daß sie die vorliegenden Zu­sammenhänge und Differenzen genau genug angäbe. In Anbetracht neuerer biologischer Untersuchungen zum Ostra­zismus ist zu diesem Punkt genauer Stel­lung zu nehmen. Die genauere Stellung­nahme hat verschiedene Arten von Er­kenntnisleistungen zu unterscheiden ‚die, selbst wenn sie formal-strukturell gleich­artig wären, insofern nichts miteinander zu tun haben als sie auf Phänomene ab­zielen, die in keinem eindeutigen Abhän­gigkeitszusammenhang stehen. Mit die­ser These soll nicht geleugnet sein, daß es gewisse Abhängigkeiten soziokulturel­ler Phänomene von physiologischen u.ä. Prozessen gibt. Im Gegenteil. Die These von der selbständigen Eigenart soziokul­tureller Phänomene soll eine angemesse­ne Beurteilung jener Abhängigkeit er­möglichen.

Ergebnisse der biologischen Ostrazismusforschung und ihre Kritik

R.D. Masters bemerkt in einem Aufsatz über Ostrazismus als biologisches und soziales Phänomen, es habe sich gezeigt, daß die Struktur und Chemie des menschlichen Gehirns direkt am Zustan­dekommen sozialen Verhaltens beteiligt sind(Masters 1986, 22). Er formuliert dann ein wenig unscharf:Ohne die Be­deutung von Ideen und Einstellungen zu verkennen, wissen wir, daß Führungsver­halten, soziale Bindung und die Bereit­schaft zu folgen auch durch den jeweili­gen Zustand von Neurotransmittersyste ­men wie Serotonin oder durch Läsionen im Bereich der Amygdala oder des Tem­porallappens beeinflußt werden. Anstel­le des altenSchichtkuchen-Modells

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