Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
150
Einzelbild herunterladen

Ingrid Blanke* Ostrazismus als Preis von Vergemeinschaftung?

der menschlichen Natur, das auf der An­nahme beruhte, die physiologischen oder natürlichen Faktoren, die das Ver­halten anderer Arten regulieren, würden im Falle des Menschen durch Kultur überformt oder fast ganz außer Kraft gesetzt, ist man jetzt zu der Einsicht gelangt, daß im Verhalten des Menschen fortwährend biologische und kulturelle Faktoren integriert werden(Masters 1986, 22). Dies ist, wie sich zeigen wird, eine unzutreffende Wiedergabe der Ver­hältnisse. Die Rede von der Überfor­mung behält ihr gutes Recht.

Es sei davon ausgegangen, daß biologi­sche Zustände das soziale Verhalten be­einflussen können und umgekehrt. Sol­che unbestrittenen Wechselwirkungen können den Ausgangspunkt für eine noch ausstehende empirische Forschung bilden, die konsequent auf die wechsel­seitige Abhängigkeit von biologischen Daten und sozialem Verhalten abzielt. Die hier angesprochene Wechselwirkung besagt nicht Determiniertheit eines Zu­standes durch einen anderen zu jedem Zeitpunkt. Es können vielmehr Auswir­kungen von der einen oder anderen Sei­te erfolgen. Es gibt aber Zustände, in denen keine Auswirkungen erfolgen, so daß jede Seite in ihrer Eigenart als nicht durch die andere bedingt vorliegt. Es handelt sich also aufs Ganze gesehen um keine eindeutig gerichtete ursächliche Abhängigkeit des sozialen Verhaltens vom biologischen Substrat.

Es seien einige der Funde in concreto vorgestellt, die eine biologische Untersu­chung des Ostrazismus zutage gefördert hat. M.J. Raleigh und M.T. McGuire ha­ben Meerkatzen untersucht(vgl. Raleigh & McGuire 1986, 101 ff.). Sie sind dabei von der Voraussetzung ausgegangen, daß der Neurotransmitter Serotonin für das Sozialverhalten der nichtmenschlichen Primaten von besonderer Bedeutung ist. Da nichtmenschliche Primaten ein gro­ßes Repertoire an Verhaltensweisen zei­gen, sind sie zu Untersuchungen beson­ders geeignet.(Das komplexe Verhalten, das dem Ostrazismus zugrundeliegt ‚wird selbstverständlich zusätzlich von weite­ren Neurotransmittern gesteuert.)

In einem Experiment haben die ameri­kanischen Forscher festgestellt, daß die

150

GBS-Werte(Gesamtblutserotonin) posi­tiv mit Rang und Status korrelieren, während niedrige GBS-Werte(eher) soli­täre Lebensweise bedingen. Untersucht wurden Gruppen von Meerkatzen mit 3 oder mehr erwachsenen Männchen und Weibchen und ihrem Nachwuchs. Domi­nante Männchen hatten hohe, unterge­ordnete niedrige GBS-Werte. Durch Tryptophangaben wurden untergeord­nete Männchen zu dominanten. Der Be­obachtung zugrundegelegt wurden 4 Ar­ten von sozialen Verhaltensweisen, die ergaben, daß die untergeordneten Männ­chen weniger an den sozialen Interaktio­nen der Gruppe beteiligt waren und in der Gefahr waren, sozial geächtet zu werden.

Ostrazismus scheint bei manchen Tierar­ten notwendig zu sein, wenn es um die Aufrechterhaltung der Rangordnung und damit zugleich um Führung und Be­friedigung der Gruppe geht. Auch beim Kampf um die Verteilung von Ressour­cen stellt sich zwangsläufig Ostrazismus ein wenn z.B. weibliche Tiere um Nah­rung für die Aufzucht ihrer Jungen kämpfen und andere Tiere am Zugang zu den besten Nahrungsquellen hindern. Der Konkurrenzkampf männlicher Tiere um Kopulationsmöglichkeiten führt ebenfalls häufig zur Abwanderung der unterlegenen Individuen.

Die bisher erwähnten Ostrazismuser­scheinungen lassen sich unter einem na­turalistischen Zielgesichtspunkt als posi­tiv bewerten, da sie zum Erhalt der Gruppenordnung durch Ausgleich der Individuenzahl, der Lebensmittelmenge u.ä. beitragen(vgl. Raleigh& McGuire 1986, 114). Zwar übersteigt der natura­listisch-evolutionistische Zielgesichts­punkt als ein Produkt der naturalisti­schen Wissenschaftsauffassung bereits das, was die Fakten und schlichte Extra­polationen von Fakten zulassen, aber damit ist noch nicht zugestanden, daß mit dem Auftritt menschlicher Wesen ei­ne neuartige Lebensqualität und damit neue Lebenszielbestimmungen auftre­ten, die sich das allgemein biologisch Ausmachbare unterordnen.

Wenn sich die innerorganismische expe­rimentelle Forschung von der generellen Maxime leiten ließe, daß allen Zustän­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG

den und Vorgängen auf der Verhaltens­ebene unterschiedliche biochemische Gegebenheiten korrelierten, dann ließen sich durch deren Erforschung wesentli­che Erkenntnisse über Gesetzmäßigkei­ten des sozialen Verhaltens gewinnen. Aber die Sachlage ist komplizierter. Zwar werden auch Menschen durch bio­logische Prozesse(wie z.B. dem funk­tionellen Zustand von serotoninergen Systemen) zu sozialen Interaktionen prädisponiert(vgl. Raleigh& McGuire 1986, 101 f.); da diese aber ihrerseits durch Umweltbedingungen und Verhal­tensinterkationen beeinflußt werden, dürften für die Auslösung von sozialer Ächtung biologische und soziale Fakto­ren zusammenwirken(vgl. Raleigh& McGuire 1986, 101 f.). Die Rede vom Zusammenwirken läßt Wesentliches un­gesagt: Denn es gibt Ostrazismen, die so verfaßt sind, daß sie nicht durch das Zu­sammenwirken so disparater Faktoren ausgelöst werden. Und dies sind diejeni­gen, die in soziokulturellen Umwelten besonders wichtig sind, weil sie z.B. im Unterschied zu biologischen Realitäten in die menschliche Wertungskompetenz und in den Spielraum menschlicher Handlungsmöglichkeiten fallen(vgl. da­zuRandgruppenbildung in soziokultu­rellen Umwelten).

Die Problemlage sei anhand eines Bei­spieles der naturalistischevolutionären Denkweise konkretisiert. Aus naturali­stischevolutionärer Perspektive kann sich die Sachlage folgendermaßen aus­nehmen. Man übergreift im Namen eines vage einheitlichen Entwicklungsbegriffs das im heutigen Zusammenleben noch wirksame Resultat der Entwicklung als gegenseitigen Altruismus(vgl. Kort 1986, 249). Es mag sein, daß sich gegen­seitiger Altruismus in bestimmten Wei­sen des Zusammenlebens entwickelt hat. Aber mit der Entwicklung des Kultur­wesens Mensch ist das Neue eingetreten, daß sich Lebewesen ein bestimmtes Ver­halten zu ihresgleichen im Namen von sprachlich artikulierten Gesetzen u.ä. vorgeschrieben haben. Das weist auf ei­ne Lücke in der naturalen Determina­tion hin, die durch kulturelle Normpro­duktionen gefüllt zu werden fordert. Derartiges ist nicht ohne weiteres mit

Band XV, Heft 3, 1989