Ingrid Blanke*
Ostrazismus als Preis von Vergemeinschaftung?
Verhaltensaltruismus gleichzusetzen. Ein solches Vorgehen mag sehr wohl eine notgedrungene Folge davon sein, daß Individuen in Gruppen ihren und auch den Bestand der Gruppe sichern mußten. Und diese Leistung hat sich— symbolisch vermittelt— in von ihnen produzierten und anerkannten Gesetzen u.ä. niedergeschlagen. Es reicht also die bloße Natur, der bloße Bios nicht zu ihrer Lebensbestimmung aus. Eine selbst produzierte Ordnung mit einer eigentümlichen Weise des Rechtfertigens, die das Naturhafte nicht außer Acht läßt ‚scheint zu dieser Art Selbsterhaltung von Individuen und Gruppe ineins erforderlich gewesen zu sein.
Die Unschärfe, die in dem erwähnten biologischen Rückgriff liegt, läßt sich an einem Satz von F.Kort zeigen, in dem dieser einen Zusammenhang zwischen sozialen und politischen Möglichkeiten des modernen Menschen und der Evolution herzustellen versucht. Der erstellte Zusammenhang vermeidet den Anschein nicht, biologisch-evolutionär ein auch in unseren heutigen Gesellschaften noch sozial fundamentales Verhalten zu erklären: Gegenseitiger Altruismus soll ein Ergebnis morphologisch abhängiger Evolution des Verhaltens sein.„Dieser Vorgang kann auch in einer allgemeineren evolutionären Perspektive dahin gedeutet werden, daß der Druck der natürlichen Auslese eine Entwicklung des zentralen Nervensystems begünstigt hat, die es zur Zusammenarbeit befähigte, welche Homo zum evolutionären Weiterbestand benötigte. Es ist daher glaubhaft, daß gegenseitiger Altruismus im menschlichen Verhalten sich in der Epoche von mehr als einer Mio Jahre entwickelte, die wirtschaftlich durch die Jagd und das Sammeln von Gemüsen und Früchten bestimmt war und in der das menschliche Gehirn sich beträchtlich vergrößerte. Im Grunde genommen hat Homo heute noch das Gehirn, das sich damals entwickelte“(Kort 1986, 248 f.). Gegenseitigen Altruismus gibt es in der Natur nicht ohne Abweichungsmöglichkeit und damit Verletzungsgefahr. Also ist ein Stützungs- und Kontrollsystem erforderlich.„In dieser Beziehung ist gesetzliche Bestrafung, wie Einkerkerung,
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG
ein sozialer Ausschluß, der eine Form von„moralistischer Aggression‘ ist‘ (Kort 1986, 250). Diese spielt sich aber im Rahmen sprachlich-symbolisch vermittelten Verstehens und Argumentierens ab. Das mag den naturalistischen Wissenschaftler nicht interessieren, der nur den Maßstab des Weiterbestehens eines sozialen Gebildes im Auge hat. Innerhalb des spezifisch kulturellen Rahmens ist das Weiterbestehen aber an Wertungen und Argumentationen, die sich aufgrund menschlicher Eigenart erzeugt haben, gebunden. Im Rückgriff auf sie bewerkstelligen menschliche Wesen den Weiterbestand von sozialen Gebilden. Diese Eigentümlichkeit gilt evolutionär gesehen als belanglos. Sie scheint eine innerliche Verselbständigung durch Selbstbezug vorauszusetzen, die durch die Individuen übergreifende, aber ihnen durch verständlich-zugängliche Symbole vermittelte Ordnungsfaktoren in Grenzen gehalten wird. Aufgrund einer im anonymen Dunkel eines kollektiven Unbewußten bleibenden Symbol-produzierenden Aktivität kommt die kulturelle Selbstsicherung zustande, durch die sich Menschen in der Natur gegen die Natur und unter anderen Gruppen gegen diese auszeichnen— so, als wäre die sprachlose Stummheit der Tiere dazu nicht ausreichend. Das besagt, daß erst damit das eigentliche Lebensmedium von menschlichen Gruppen erreicht ist, über das eine experimental biologische Darstellung innerorganismischer Zustände aber auch eine neurale Verhaltensbeschreibung, die sich an einem allgemein evolutiven, nivellierten Begriff von Überleben und erfolgreicher Durchsetzung von Gruppen orientiert, nichts aussagt. Ihr entgeht das Spezifische all derjenigen Maßstäbe, an denen sich für ein„vernünftiges Wesen‘‘ bemißt, was gutes Leben besagt, wovon es sein Leben abhängig zu machen sucht. Und derartiges weist die Natur auf ihrer vorkulturellen Stufe nicht auf.
Geht man gewisse soziale Phänomene mit weit gefaßten Begriffen von Abwanderung, Widerspruch und Loyalität an, so hat man sich schon auf der Ebene des Verhaltens angesiedelt(vgl. Hirschmann 1970; deutsche Übersetzung: 1974). Die
Band XV, Heft 3, 1989
se Begriffe mögen für inhaltlich ganz verschiedene Bereiche passen: für die Ökonomie, die Politik,die Gesellschaft, Tiergruppen. Das schließt nicht die Möglichkeit aus, daß solche Bereiche ihr Spezifisches haben, das bei der Anwendung dieser Begriffe berücksichtigt werden kann oder nicht. In der Sphäre der Politik ist z.B. in einigen Staaten Widerspruchsund Abwanderungsmöglichkeit ins System eingebaut; und zwar aufgrund von Werturteilen über die für die Individuen und ihre Lebensansprüche beste, weil z.B. durch selbst gesetzte Grenzen eingeschränkte Form des Zusammenlebens. Unter all diesen Voraussetzungen können biologische Faktoren noch eine Rolle spielen(vgl. Masters 1986, 263f.). Aber sie sind hier kulturell eingebettet. Die hochstufig, geschichtlich-kulturell determinierten politischen Gegebenheiten aber lassen sich nicht auf eine allgemeine biologisch-evolutionäre Verhaltensgrundlage reduzieren. Sie sind das sozial Wesentliche, das Gruppen von Individuen aus sich herausgesetzt haben, um sich ihm zu unterwerfen. Und derartiges muß auf der Ebene der Politik z.B. in Begriffe wie Widerspruch oder Abwanderung aufgenommen werden, wenn man der Spezifität dieser Phänomene gerecht werden will. An ihnen kann nichts Wesentliches durch den Rückgriff auf Biologisches verständlich gemacht werden. Dieser Mangel hat allerdings kein Gewicht, wenn man in einer nivellieren
den generell naturalistischen Weise denkt. Randgruppenbildung in
soziokulturellen Umwelten
Menschlichen Sozialphänomenen ist es eigen, durch„Vorstellungen und Werte“ vermittelt zu sein. Wenn man diese Eigentümlichkeit als wesentlich festhält, kann an ihr durch die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise nichts verständlich gemacht werden— weil symbolisch vermittelt agierende und sich erhaltende Wesen auf die eigenen Symbolproduktionen samt den ihnen zugehörigen Rechtfertigungen angewiesen sind, um sich zu
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