Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
152
Einzelbild herunterladen

Ingrid Blanke+ Ostrazismus als Preis von Vergemeinschaftung? BEL. nn v6. mR- z

erhalten, weil sie ihr Leben in ihnen füh­ren(vgl. die beiden Sammelbände von der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziolo­gen(Hrsg.) 1973). Gegebenheiten und Vorgänge der biologischen Sphäre haben darin nur Bedeutung, sofern sie von so lebenden Wesen auf sich als Lebewesen zurückbezogen werden. In ihrer bloßen objektiven Realität liegen sie außerhalb der sprachlich-symbolisch vermittelten Lebenssphäre. Sofern eine naturwissen­schaftliche Betrachtungsweise das sich so darstellende, symbolisch vermittelnde Leben reduziert auf das, was ihr Sym­bolsystem darstellt, das einer nicht sym­bolisch durch verselbständigte Einzelwe­sen in Eigentätigkeit sich vermittelten Welt zugehört, muß sie sich blind ma­chen gegen die Eigenart derjenigen Stu­fe des Lebens, die Natur in einer Men­schenwelt angenommen hat.

Gehen wir ein wenig näher auf Situatio­nen menschlichen Zusammenlebens ein, in denen sich Individuen sprachlich sym­bolisch vermittelt zueinander verhalten und in denen bindende, gemeinsame Wertungen in Kraft sind. Individuen rich­ten sich unter diesen Voraussetzungen in ihrem Verhalten an(vorgegebenen) Normen aus. Diese können so sein, daß Ostrazismus zustandekommt. Wenn das geschieht, so liefert sprachlichsymbo­lisch Vermitteltes Begründungen für die Aussonderung von Gruppen und Indivi­duen. Diese Begründungen können sehr verschieden sein. Biochemische Vorgän­ge können hier nicht als Begründungen auftreten. Sie können bestenfalls von Wissenschaftlern alsBegründungen den andersartigen lebensweltlichen Be­gründungen unterschoben werden. In Anbetracht der für so vollzogene Wer­tungen in Frage kommenden Möglich­keiten sind biologische Zustände unbe­stimmt. Es gibt z.B. keine eindeutigen Entsprechungen zwischennormalen* physiologischen Zuständen und lebens­weltlichen menschlichen Wertungsmög­lichkeiten. In sich eindeutige physiologi­sche und neurochemische Zustände sind mit unbestimmt vielen soziokulturellen Umwelten korrelierbar; mit solchen, in denen es zum Ostrazismus kommt oder kommen muß, und mit anderen, in de­nen es keinen Ostrazismus gibt. Und

152

zwar können alle diese Möglichkeiten gemäß denZwängen* und Begründun­gen auftreten, die in einer soziokulturel­len Umwelt zu gelten pflegen, in der kei­ne biologischen Realitäten innerorganis­mischer Art vorkommen und Geltung beanspruchen.

Eine Art Gedankenexperiment mag den Abstand, der zwischen der biologischen Ebene und Leben in soziokulturellen Kontexten besteht, weiter verdeutlichen. Es seien irgendwelche normalen inneror­ganismischen Zustände vorausgesetzt. Diese mögen nicht durch anderes Gleich­artiges beeinflußt werden; sei dieses nun organismischen Ursprungs, durch Um­weltrealitäten oder durch bloße Vorstel­lungen hervorgerufen. Indem Menschen eine von ihnen organisierte Umwelt auf Dauer einrichten, verfügen sie über die Zukunft im Medium des Vorstellens, oh­ne daß das Vorgestellte durch organismi­sche Realzustände bedingt wäre oder sich auf solche Zustände auswirkte. Die er­wähnten biologischen Zustände sind al­so für derartiges nur eine außerwesentli­che Voraussetzung. Die ganzheitlichen Verhaltensphänomene, die wir zuvor auf der weniger leistungsfähigen Stufe tieri­scher Lebewesen gegen biochemische u.ä. Realitäten abgehoben haben, rük­ken beim Menschen(teilweise) in diesen Horizont der vorgreifend übergreifenden Verfügung über Zeiträume hinein. Sie er­halten von daher einen spezifisch mensch ­lichen Sinn(was nicht ausschließt, daß sie relativ leicht experimentalbiologisch zugänglich bleiben). Die angedeutete Verfügungsfähigkeit ist eine Machtquel­le für den Menschen. Sie gibt ihm in der Sphäre der Möglichkeiten, d.h. in der Sphäre desbloß Vorgestellten, aber auf Realität Bezogenen, die Gelegenheit, in der Zukunft Ausstehendes in der Ein­richtung seiner Welt zu berücksichtigen und das so Berücksichtigte in einem ge­wissen Spielraum des Seinsollens und Nicht-seinsollens zu beurteilen. Das dem Menschen in dieser Weise Zugängliche kann nicht mehr durch den Rückgriff auf biologische Realzustände und ihre Leistungsfähigkeit erklärt werden. De­ren Erkenntnis gehört vielmehr in diese Möglichkeitssphäre hinein. So vermittelt tritt es als eine zugrundeliegende Tatsa­

‚HEILPÄDAGOGISCHIE FORSCHUNG

che, von der auf der Ebene des Verhal­tens etwas abhängig ist, in der soziokul­turellen Umwelt von Menschen auf.

Ich konstruiere ein Beispiel, an dem die jetzt geklärte, aufs Biologische irredu­zible Eigenart von Ostrazismen in die Augen springen mag, gerade weil in ihm Biologisches eine Rolle spielt. Man den­ke an eine Umwelt, in der eine Gruppe von Fremden als bedrohliche Konkur­renz geächtet wird. Es kommt dabei gar nicht darauf an, ob die Bedrohlichkeits­empfindung objektiv begründet ist, weil z.B. eine Nahrungsknappheit sich so aus­wirkt, daß eine organismische Reaktion stattfindet. Nehmen wir an, es liege ihr in einigen Individuen ein deregulierter physiologischer Zustand zugrunde. Die­ser kann sich in einer vorliegenden so­ziokulturellen Situation wie gesagt in verschiedener Weise äußern. Es könn­ten diese Individuen den Versuch ma­chen, andere ihrer Genossen davon zu überzeugen oder zu überreden, daß die Fremden bedrohlich oder minderwertig seien. Dieses Vorgehen könnte verschie­denen Motivationen entspringen, z.B. dem Haß oder Machttrieb. Es müßte nicht dazu führen, daß in den Überzeug­ten dieselbe Bedrohlichkeitsempfindung ausgelöst würde, wie sie in gewissen In­dividuen besteht, von denen die Xeno­phobie ihren Ausgang nimmt. Nehmen wir an, es gelänge dieser Kleingruppe, der gehaßten Fremdgruppe in den Au­gen ihrerVolksgenossen negative Ste­reotype anzuheften und diesen verächt­liches Verhalten vorzuschreiben, das aus Angst vor ihrer Macht und nicht etwa aus Angst vor den Fremden selber be­folgt würde. Es könnte sich die Möglich­keit ergeben, daß die Initiatoren der Fremdenhaßbewegung als krank, dh. unter bestimmten physiologischen Dere­gulationen leidend, entlarvt würden. Es könnte sein, daß ihre Ächtungsbemühun­gen dann gescheitert wären und sie sel­ber geächtet würden. Wenn es ihnen aber gelungen wäre, eine größere An­zahl von Gruppenmitgliedern zu über­zeugen von der Berechtigung ihres Frem­denhasses, so wäre eine solche Entlar­vung wohl nicht mehr möglich, da sozia­le Mehrheit Macht und Richtigkeit be­deuten können.

Band XV, Heft 3, 1989