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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Ingrid Blanke

- Ostrazismus als Preis von Vergemeinschaftung?

Es ließen sich die komplikativen Mög­lichkeiten nach Belieben vermehren. Ih­re skizzenhafte Andeutung hatte nur die Aufgabe, zu veranschaulichen, daß bio­logische Gegebenheiten im Gesamt der Eigenart der sprachlich-symbolisch ver­mittelten Sphäre sozialen Lebens eine untergeordnete Rolle zu spielen pflegen, indem sie als Substrate im Bezug auf die Eigenart der sprachlich-symbolisch ver­mittelten Sozialsphären außerwesentlich sind. Durch diesen Nachweis wird alles, was zuvor über die Abhängigkeiten zwi­schen Biologischem und Sozialverhalten gesagt worden ist, nicht tangiert. Aller­dings werden diese Abhängigkeiten ein­geschränkt auf eine Nebensphäre, die ge­nauer umgrenzt werden muß, die jedoch nicht geeignet ist, die Zentralsphäre des Ostrazismus in sprachlich-symbolischen Lebenswelten zu besetzen. Es kann also keine Rede davon sein, daßim Verhal­ten des Menschen fortwährend biologi­sche und kulturelle Faktoren integriert werden(Masters 1986, 22). Soziokul­turelle Faktoren führen vielmehr ein ge­wisses Eigenleben, dem eigene Arten des Begründens und Rechtfertigens zugehö­ren, für die dasjenige, was in einer expe­rimentellen Biologie als Begründung in Frage kommt, oft unwesentlich ist wie zu zeigen versucht(vgl. Kornadt 1985, 10f.).(Zur Verschränkung von biologischen Gegebenheiten und ihrer wertend-verstehendenAneignung im Verhältnis von Behinderten und Nicht­behinderten vgl. z.B. Buchkremer 1977, 82 ff.).

Es ist nichts dagegen einzuwenden, Ostrazismus sowohl als biologisches als auch als kulturelles Phänomen zu behan­deln, wenn berücksichtigt wird, daß

Literaturliste

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HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG

Ostrazismus, je nachdem wie er behan­delt wird, ein verschiedenartiges Phäno­men ist. Als soziokulturelles Phänomen kann er nicht generell biologisch geklärt werden. Aus dem Gesamtkomplex des Ostrazismus wäre dasjenige, was einer biologischen Betrachtung und Erklärung zugänglich ist, sorgsam abzugrenzen, aber dies läßt sich wahrscheinlich nicht ein für allemal im allgemeinen bewerk­stelligen. Masters bemerkt:Eine biolo­gische Untersuchung einer sozialen Ver­haltensweise wie der Ächtung ist,..., weit davon entfernt, menschliches Ver­halten auf Gene oder Instinkte zure­duzieren, denn auch sie muß die Be­sonderheiten des menschlichen Verhal­tens und unserer kulturellen Systeme im Auge behalten(Masters 1986, 23). Das ist zu wenig gesagt: Denn die Beson­derheiten menschlichen Verhaltens und unserer kulturellen Systeme bilden eige­ne Welten, die durch eine spezifische Tä­tigkeit hervorgebracht worden sind und erhalten werden. Diese Tätigkeit kann als etwas spezifisch Ursprüngliches und Unableitbares angesehen werden. Ihr kann eine eigen geartete nicht-biologi­sche Erkenntnisart zugeordnet werden. Dies besagt aber, daß dasjenige, was in der Biologie als Sachlage und Erklärung gilt, in ihr nichts beschreibt und erklärt. Daran ändert auch der evolutionstheore­tische Gesichtspunkt nichts.

Das, was an den Tieren aufgrund von Beeinflussung der biologischen Grundla­gen des sozialen Verhaltens an Änderun­gen im sozialen Bereich bewirkt wird, ist eine Sache. Da die Tiere gewisse symbo­lisch vermittelte wertungsdurchsetzte soziale Verhaltensweisen nicht produ­ziert haben, erklärt das Tierexperiment

an diesen nichts. Es ist also dafür auch überflüssig. Wenn dem symbolisch ver­mittelten Sozialverhalten z.B. gewisse physiologische Zustände zugrunde lie­gen, so kann es sein, daß dieses nur in­nerhalb gewisser Grenzen physiologi­scher Zustände stattfindet und also durch Verletzung dieser Grenzen beeinflußt werden kann. Daß diese Grenzen aber eingehalten sind, braucht nichts über ein symbolisch vermitteltes Interagieren auszusagen, denn symbolisch vermittel­tes soziales Handeln hat seine eigene Weise, etwas zu verstehen und zu recht­fertigen. Nennen wir seinen Spielraum den des Sinnes, so sind biologische Zu­stände, sofern sie im Rahmen des durch sie ermöglichten symbolisch vermittel­ten Sozialverhaltens liegen, für dieses sinnlos, respektive ihre Erkenntnis un­tersteht einem anderen Begriff von Sinn als es derjenige ist, durch den sich sozial bezogenes Handeln konstituiert. Wirken sich physiologische Zustände auf sym­bolisch vermitteltes Sozialverhalten aus, so kann dies für den durch diese Auswir­kung Betroffenen gleichbedeutend sein mit einem Heraustreten aus der Sinn­sphäre symbolisch vermittelten Sozial­verhaltens. Diese Möglichkeit kann als Definition einer krankhaften sozialen Abweichung benutzt werden. Sozialpäd­agogik hat auch mit derartigem zu rech­nen.(Wie sich aus sonder- und sozialpäd­agogischer Perspektive das Biologische in das spezifisch Lebensweltliche ein­bauen läßt, ist aus einem Beitrag von Buchkremer zum Handbuch der Sonder­pädagogik zu entnehmen(Buchkremer 1989)).

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Gegenstück zu bürgerlichen Rechten und Freiheiten in entwick­

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