Dietrich Kratzsch*
Revision des jugendstrafrechtlichen Subsidiaritätsprinzips
Zuchtmittel zur Erziehung des Jugendlichen nicht ausreichen.
Abgesehen von diesen einzelnen Sanktionsnormen, die die Ziele und Rahmenbedingungen der Erziehungsmaßnahmen (mehr oder weniger detailliert) regeln, enthält das JGG Bestimmungen, die die Relationen zwischen den Sanktionen zum Gegenstand haben. Auch mit ihnen werden jeweils besondere Erziehungseffekte angestrebt. Während 8 8 aus diesem Grunde die Verbindung mehrerer Sanktionen zuläßt, schreibt$5 Abs. 2 — noch deutlicher als der erwähnte 8 17 Abs.2 1. Alt.— eine 88 begrenzende(Eisenberg 1988,& 5 Rdn. 19; a.A. Walter 1988 a, 331f.) abgestufte Rangordnung vor(‚‚materiellrechtliches jugendstrafrechtliches Subsidiaritätsprinzip‘, Heinz 1986, 9; Walter 1988, 220 f.):
„Die Straftat eines Jugendlichen wird mit Zuchtmitteln oder mit Jugendstrafe geahndet, wenn Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen.‘
Im Ergebnis zielt die Rangordnung auf eine generelle Privilegierung der Erziehungsmaßregeln(Weisungen u.a.) gegenüber den ahndenden Sanktionen der Zuchtmittel(Auflagen u.a.) und Jugendstrafe ab. Als Fundamentalprinzip des Jugendstrafrechts wird ihr über den Wortlaut des$ 5 Abs.2 hinaus entsprechende Geltung auch für die informellen Reaktionsformen des 845 zuerkannt (Walter 1988 b, 220f.), so daß die Ergebnisse der nachfolgenden Untersuchung auch auf die letzteren übertragbar sind.
In den letzten 10 Jahren hat das in Rede stehende Sanktionensystem eine Entwicklung genommen, die einen recht zwiespältigen Eindruck hinterläßt. Auf der einen Seite haben insbesondere die ambulanten sozialpädagogischen Maßnahmen— namentlich die Arbeitsweisung, die Betreuungsweisung und die ebenfalls den Weisungen zugerechneten sozialen Trainingskurse- einen beispiellosen Boom erfahren[Heinz 1987, 129 ff.; Frehsee 1988, 281; DVJJ(Hg.) 1986, 1 ff.—. Nach dem Referentenenrwurf zum 1.JGG-Änderungsgesetz(RE 1987) soll er in Zukunft gesetzlich festund fortgeschrieben werden(Eisenberg,
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1988 a, 129 ff.)]. Auf der anderen Seite ist neuerdings eine wachsende Zahl von sehr kritischen Stellungnahmen zu verzeichnen, die— wie andernorts z.B. Giesecke 1987 a, 7ff., 1987 b eine völlige Abschaffung des Erziehungsgedankens fordern(vgl. Müller/Otto 1986, XIlI; Ostenorf 1987, Grdl. zu 88 1 und 2, Rdn.4; Albrecht 1987, 53 ff.) oder sich gegen Teile der geltenden Erziehungskonzeption des JGG richten. Zu den Regelungen, auf die letzteres zutrifft, gehört das erwähnte(„materiellrechtliche‘) jugendstrafrechtliche Subsidiaritätsprinzip.
In Praxis und Lehre herrscht überwiegend(anders wohl Heinz 1986, 7) Einigkeit darüber, daß$ 5 Abs.2 in der gesetzlichen Fassung keine uneingeschränk te Geltung beanspruchen könne(Albrecht 1987, 108, 168; Böhm 1985, 117f.; Brunner 1986, 8 5 Rdn. 1; Nothacker 1985, 154, 158). Die absolute Form, in der dieser die Erziehungsmittel gegenüber den Zuchtmitteln privilegiere, führe zu rechtlich unhaltbaren Ergebnissen. Nicht hinnehmbar sei z.B., daß, nehme man den Gesetzeswortlaut ernst, von besonders eingriffsintensiven Erziehungsmitteln(z.B. Fürsorgeerziehung, Betreuung) selbst dann Gebrauch gemacht werden müsse, wenn feststehe, daß sich der Erziehungserfolg auch mit„milderen“ Zuchtmitteln(z.B. Verwarnung, Wiedergutmachung) erreichen lasse. Zu Recht wird diese Art der Rangabstufung als Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewertet(Prinzip des mildesten Mittels, Übermaßverbot) und de lege lata zum Anlaß für eine Gesetzeskorrektur genommen. Hingegen erscheint zweifelhaft, ob den Änderungsvorschlägen auch inhaltlich gefolgt werden kann. Nach ihnen ist entgegen$5 Abs.2 nicht von der schematischen Rangfolge„Erziehungsmittel vor Zuchtmitteln“, sondern von einer Orientierung der Sanktion an ihrer konkreten Eingriffsintensität auszugehen: Von den zur Förderung des Legalverhaltens geeigneten Maßnahmen sei die mildeste zu verhängen(Albrecht a.a.O.). Diese Auffassung, die in verschiedenen, teilweise ctwas abgemilderten(vgl. Eisenberg 1988 b;$ 5 Rdn. 20; Zieger 1988, 309) Versionen vertreten
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG
wird, läuft faktisch auf eine— in der Praxis weitverbreitete(Heinz 1986, 15; Hermann/Wild 1989, 14 ff.)— Umkehr der gesetzlichen Rangfolge hinaus („Zuchtmittel vor Erziehungsmitteln“— Schaffstein/Beulke 1987, 93; Brunner a.a.0.). Derartige Tendenzen begründen die Gefahr, daß„das Kind mit dem Bade ausgeschüttet‘ und der Erziehungsgedanke des 85 Abs.2 vollends aus der ihm— trotz notwendiger Begrenzung— auch weiterhin zustehenden Position verdrängt wird(s.a. Wolf 1984, 42 ff.). Dabei wird verkannt, daß auch nach den Prämissen des Verhältnismäßigkeitsprinzips die angezeigte Einschränkung des Subsidiaritätsprinzips zugunsten der Freiheitsinteressen des Jugendlichen nur mit dem Vorbehalt zulässig ist, daß sie die(reduzierten) Erziehungsziele des 8 5 Abs. 2 ebenfalls optimal zur Geltung bringt(Kratzsch 1985, 224 f.). In Wahrheit kommt somit nur eine wechselseitige Begrenzung zwischen den kollidierenden Erziehungs- und Freiheitsinteressen in Betracht.
Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Konsequenzen eine solche wechselseitige Reduktion für den Inhalt des(„materiellrechtlichen‘“) jugendstrafrechtlichen Subsidiaritätsprinzips hat. Die sich dabei stellenden Probleme erweisen sich als unerwartet vielschichtig und führen letztlich weit über die Ausgangsfrage hinaus. Ihr Kern berührt Grundsatzfragen der Erziehung, für deren Beantwortung Kriminal- und Sozialpädagogen an entscheidenden Stellen mit zuständig sind.
Zunächst wird herauszuarbeiten sein, daß und welchen Erziehungszielen$ 5 Abs. 2 dient. An die Feststellung, daß es dem Grundsatz in doppelter Hinsicht um eine Optimierung des Erziehungsverhaltens geht, knüpft die weitere Frage an, ob auf der Basis des$ 5 Abs. 2 die in Rede stehende Optimierung überhaupt Erfolgsaussichten hat. Das Ergebnis der Prüfung fällt zwar negativ aus, läßt die Existenzberechtigung des Optimierungsgrundsatzes jedoch unberührt. Deshalb werden anschlieBend verschiedene Möglichkeiten einer Optimierung des$5$S Abs. 2 diskutiert. Im Rahmen der Untersuchung ergibt sich ein weiterer Kritikpunkt, der ebenfalls dringend eine Gesetzesreform verlangt: die überalterte Fassung der Zuchtmittel. Den Abschluß der Erörterungen bilden Gesetzesvorschläge, die auf eine Änderung des $ S Abs. 2 und der Zuchtmittel abzielen.
Band XV, Heft 3, 1989