Dietrich Kratzsch*
Revision des jugendstrafrechtlichen Subsidiaritätsprinzips
Entstehungsgründe der Sanktionen und des jugendstrafrechtlichen Subsidiaritätsprinzips
Der Inhalt des 8 5 Abs. 2 und der durch ihn geregelten Sanktionen ist das Ergebnis eines sich über Jahrzehnte hinziehenden Differenzierungsprozesses. Verlauf und Gründe dieser Entwicklung liefern wichtige Orientierungspunkte für das heutige Normverständnis(vgl. Heinz 1986, 7 ff.). Die Ursprünge des Subsidiaritätsprinzips reichen bis in das Jahr 1923 zurück, in dem mit dem JGG erstmals ein nur für Jugendliche geltendes Sonderstrafrecht geschaffen wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Jugendliche wie„kleine Erwachsene“ behandelt und nach den Vorschriften des Erwachsenenstrafrechts bestraft worden(mit der Möglichkeit der Strafmilderung). Eine der Neuerungen des JGG 1923 bestand darin, daß— außer den auch weiterhin fortgeltenden Geld- und Freiheitsstrafen — Erziehungsmaßregeln angeordnet werden konnten. Mit den heute in Kraft befindlichen„Erziehungsmaßregeln‘“ der 88 9ff. hatten diese im wesentlichen nur den Namen gemeinsam. Dies trifft jedenfalls für die hier interessierenden Weisungen und Zuchtmittel zu, die ohne ihre heutige Bezeichnung und Differenzierung und ohne jede Rangabstufung als„besondere Verpflichtungen“ in einer Vorschrift zusammengefaßt waren ($ 7 a.F.). Das in$ 6 a.F. geregelte Subsidiaritätsprinzip hatte allein das Verhältnis zwischen Strafen und den damaligen Erziehungsmaßregeln zum Gegenstand. Die Subsidiarität der herkömmlichen— auch generalpräventiven Zielen dienenden(vgl. Hellwig 1923, 23 ff.)— Strafen sollten deren„für die Entwicklung des Jugendlichen... besonders schädlichen‘ Wirkungen entgegensteuern und im übrigen sicherstellen, daß „in Fällen, in den sich in der Verfehlung ein Mangel seiner bisherigen Erziehung kundgibt, dieser Mangel gehoben... wird“(Hellwig 1923, 267 f.). Da die erzieherischen Vorgaben des Gesetzes nicht die erwartete Beachtung fanden, schaffte das JGG 1943 die Geld- und kurze Freiheitsstrafe ab und ersetzte sic durch die im wesentlichen auch heute
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG
noch geltenden Regelungen der Erziehungsmaßregeln und der Zuchtmittel (Peters 1941, 351ff.; Sieverts 1955, 133; Holzschuh 1955, 167). Beide Sanktionstypen stellen. ungeachtet des Jahres ihrer Inkraftsetzung— kein originär nationalsozialistisches Gedankengut dar (vgl. jed. Eisenberg 1988 b, 8 13 Rdn.4), vielmehr gehen sie auf Vorschläge des Sozialpädagogen F.W. Foerster(1913, a.a.O., 13 ff.) zurück, die dieser bereits 1912 auf dem deutschen Jugendgerichtstag gemacht hatte(Schaffstein 1986, 394 f.; Sieverts 1961, 5, 262 f.). Grundidee seiner Vorschläge war die später auch von Boldt(1940, 337 ff.; Lange 1944, 67 ff.) u.a. aufgegriffene Vorstellung, daß es neben und vor der eigentlichen Erziehung„freie Strafen“ oder Zuchtmittel geben müsse(z.B. Wiedergutmachung, Geldbuße), die dem Jugendlichen„durch ein Leiden die Realität des Rechts“ bewußtmache. Im Sinne einer„echten Pädagogik der Selbsttätigkeit‘ gehe es dabei darum, Sühnebedürfnis und Selbsttätigkeit des Jugendlichen in bezug auf seine„moralische Erneuerung“ zu wecken(a.a.O., 34 ff., 42 ff.). Das Subsidiaritätsprinzip in seiner heute geltenden Fassung gab es 1943 noch nicht. Es wurde erst durch das JGG 1953 eingeführt. Welche Gründe den Gesetzgeber veranlaßt haben, nicht nur die Strafe, sondern auch die Zuchtmittel gegenüber den Erziehungsmaßregeln für subsidiär zu erklären, läßt sich den Gesetzesmaterialien nicht eindeutig entnehmen. Die Bemerkung der Amtlichen Begründung(BT-Drs. 1. Wahlperiode 1949, Nr. 3264, 39), die„Änderung der Systematik‘ solle„den Erziehungsgedanken stärker hervortreten“‘ lassen, ist mehrdeutig. Sie enthält keine Angaben darüber, worin in bezug auf die Zuchtmittel die erstrebte„Stärkung“ bestehen soll.
Die ratio des Subsidiaritätsprinzips
Man würde dem Inhalt des$ 5 Abs.2 nicht gerecht, wenn man in diesem lediglich eine Neuauflage des 1923 eingeführten Prinzips der Subsidiarität der
Band XV, Ileft 3, 1989
Strafe sehen würde(s. jed. Heinz 1986, 9 ff.). In Wahrheit haben beide Regelungen kaum etwas gemeinsam. Denn mit dem Sanktionensystem und der erwähnten Erweiterung des$5 Abs.2(auf Zuchtmittel u.a.) haben sich zwangsläufig auch Gegenstand und Ziel des Subsidiaritätsprinzips grundlegend verändert. Während es 8 6 JJG 1923 um die Durchsetzung des Erziehungsgedankens gegenüber der Strafe ging, hat$ 5 Abs.2 bis auf die genannte und im folgenden vernachlässigte Ausnahme($ 17 Abs.22. Alt.) ausschließlich nur Erziehungsmaßnahmen zum Gegenstand(abweich. Dallinger-Lackner 1965,$ 5 Rdnr. 16; dag. Walter 1988, 221, 229). Die Ziele eines solchen Rangverhältnisses sind grundsätzlich anderer Art als die der alten Regelung. Die„Stärkung‘‘ des Erziehungsgedankens, die auf diese Weise erreicht werden kann und von Verfassungs wegen soll(Kratzsch 1989, 51 f.), besteht darin, daß im Fall des Zusammentreffens mehrerer sich ausschließender Erziehungsmaßnahmen derjenigen zum Durchbruch verholfen werden soll, die die Erziehungsziele optimal, dh. möglichst wirksam und angemessen verwirklicht. Darüber hinaus geht es$ 5 Abs. 2 um ein zweites Optimierungsziel: um keine Erziehungslücken aufkommen zu lassen, verpflichtet$ 5 Abs.2 zum Einsatz subsidiärer Mittel, falls die privilegierten Erziehungsmaßregeln„nicht ausreichen“.
Die„Verstärkungen“‘, die sich auf diesem Wege erzielen lassen, sind für den Bestand und den„Erfolg‘ des Erziehungsstrafrechts nicht minder zentral als die der 1923 geschaffenen Regelung. Optimale Qualität und Vollständigkeit der jugendstrafrechtlichen Erziehung stellen die Kehrseite und die existentielle Grundbedingung eines Sanktionensystems dar, das in so weitgehendem Maße wie das JGG auf generalpräventive Sanktionsziele(z.B. der allgemeinen Abschreckung) verzichtet(Kratzsch 1989, 57 bei FNA49). Eine andere, hiervon streng zu trennende Frage ist, ob sich $5 Abs.2 mit seiner doppelten Optimierungsfunktion nicht zuhoch gesteckte Ziele setzt.
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