Die Rawlssche Theorie und die Verpflichtung
Behinderten zu helfen
Von Iris Bartkiewicz
Rawls’„‚Theorie der Gerechtigkeit‘ wird daraufhin untersucht, ob es nach dieser Theorie eine Verpflichtung gibt, Behinderten zu helfen. Die Untersuchung zeigt, daß die Bedingungen, unter denen allgemeingültige Gerechtigkeitsprinzipien entstehen(Schleier des Nichtwissens; Maximin-Regel), dazu führen, daß sich jeder Wähler als potenziell behindert denkt und entsprechend nur solche Gerechtigkeitsprinzipien wählt, die zum Wohle seines potentiellen Schicksals dienen.
Rawls’ Theory of Justice has been analysed to find out wether according to this theory there is an obligation to help handicapped people. As a result of this anlysis it can be said that the constituency that takes part in this exercise could be possibly ignorend to the fact that there are handicapped (cf. veil of ignorance). This leads the voter to decide only for these universal principles of justice(cf. first and second principle of justice). Acting like this serves for the well-being of the whole of the electorate including the handicapped.
Im Rahmen der Problematik des Verhältnisses von Ethik und Wissenschaft wird auch in der Allgemeinen Heilpädagogik die Frage gestellt, wie angesichts des Dilemmas, daß Wissenschaft nur IstAussagen aber keine Soll-Aussagen liefern kann, Lösungen gefunden werden können. Denn es kann nicht aus einem „technologischen Können ein pädagogisches Sollen abgeleitet werden“(Anstötz 1984, 200). Somit müssen die Disziplinen sich die Frage stellen,„wie inmitten weltanschaulicher Vielfalt in einer pluralen Gesellschaft heute noch die Geltung von sittlichen Normen, ohne die keine Gesellschaft existieren kann, begründet werden kann“(Lotz 1982, 1). Die Fachwissenschaftler müssen somit die Ethik als philosophische Disziplin, die sich ‚rational’ mit Sollens-Ansprüchen befaßt, befragen, wenn sie Antwort auf die Frage nach der Geltung von sittlichen Normen haben wollen.
In seinem 1971 erschienenen Buch„A Theory of Justice“(dt.: Eine Theorie der Gerechtigkeit 1975) hat John Rawls mehrere früher veröffentlichte Aufsätze in etwas abgewandelter Form zusammengefaßt und weiterentwickelt. In erster Linie ist das Werk der Moral- und
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG
Sozialphilosophie zuzuordnen. Es weist jedoch auch Verbindungen zur Politik-, Rechts-, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie und Pädagogik auf.
Die theoretischen Grundgedanken
Rawls entwickelt in Anlehnung an Kant bzw. in Abgrenzung zum Utilitarismus eine Theorie der auf das Individuum gegründeten distributiven Gerechtigkeit, d.h. dem fairen Ausgleich von Vor- und Nachteilen, Chancen und Risiken, Rechten und Pflichten, während die kommutative und legale Gerechtigkeit demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Seine Theorie stützt sich einerseits auf die klassischen Vertragstheorien von Locke, Kant und Rousseau. Darunter versteht man die staatsphilosophische Lehre vom Gesellschaftsvertrag(Sozialvertrag oder Staatsvertrag), nach der das Entstehen und Bestehen des Staates auf eine freie Vereinbarung der Einzelnen zurückgeht und dadurch gerechtfertigt wird. Bei Rawls wird die Vertragstheorie zunächst auf ein höheres Abstraktions
Band XV, Heft 3, 1989
niveau gehoben. Das bedeutet, daß im Gegensatz zu den klassischen Vertragstheorien nicht auf ein früheres historisches Stadium oder auf eine primitive Stufe der Kulturentwicklung verwiesen wird(vgl. Brockhaus 1974 Bd. 19, 574). Stattdessen entwickelt er in Anlehnung an die Entscheidungs- und Spieltheorie die Idee eines rationalen Spiels. Die Entscheidungstheorie liefert dabei die Kriterien für die Rationalität von Entscheidungen. Von der Spieltheorie wird die Annahme übernommen, daß jeder Spieler in diesem Spiel um Entscheidungen (angesichts mehrerer Entscheidungsträger) annehmen muß, daß die Entscheidungen der anderern Spieler die späteren Zustände bestimmen werden. Dies bedeutet in letzter Konsequenz, daß die Spieler nur solche Grundsätze wählen werden,„die jemand als Plan für eine Gesellschaft wählen würde, in der ihm sein Feind einen Platz zuweisen kann“ (Rawls 1975, 178).
Darüber hinaus stützt Rawls sich auf „wohlüberlegte Urteile‘, die geprägt sind von überdurchschnittlicher Intelligenz und Lebenserfahrung, sowie auf das Vorhandensein eines ‚„Gerechtigkeitssinns‘*(„sense of justice‘), unter
165