Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
166
Einzelbild herunterladen

Lris Bartkiewicz* Die Rawlssche Theorie

dem im Sinne Rousseausein wahres Gefühl des durch die Vernunft aufge­klärten Herzens, das Ergebnis unserer ursprünglichen Empfindungen*, verstan­den wird(Rawls 1977, 125). Diese Urteile müssen mit den Vertragsprinzi­pien in einemreflektiven Gleichge­wicht stehen, d.h. andernfalls müssen die Prinzipien und die Urteile auf ihre Rich­tigkeit hin kritisch untersucht werden.

Zur Verpflichtung Behinderten zu helfen: Anfrage auf die Rawlssche Theorie

Die Rawlssche Theorie stellt ein Normen­begründungsverfahren dar. Mit Hilfe eines Gesellschaftsvertrages unter der Kon­trolle des reflektiven Gleichgewichts sollen Prinzipien gefunden werden, die das gesellschaftliche Leben regeln und bei Interessenkonflikten Lösungsmöglichkei­ten finden lassen(vgl. Höffe 1977, 24 f.). Ein solcher Interessenkonflikt besteht heute, bezogen auf allgemein heilpäd­agogisch-ethische Überlegungen, in der Frage, ob Behinderten ein Recht auf Hilfe bzw. in letzter Konsequenz auf Leben zu­zubilligen ist. Diese Frage wird, wie die Problematik der Abtreibung und im Spe­zialfall des Schwangerschaftsabbruchs nach der pränatalen Diagnose einer Be­hinderung zeigt, kontrovers diskutiert (vgl. die Diskussion Anstötz Buchkre­mer in diesem Heft).

Zu der Argumentation auf moralischer Ebene treten oft auch gesellschaftsöko­nomische Überlegungen. Damit wird die Diskussion auf ein anderes Niveau geho­ben und erheblich erschwert, wie dies z.B. das Problem der Folgekosten be­hinderten Lebens für die Gesellschaft zeigt. Denn besonders in Zeiten wirt­schaftlicher Rezession fließen Gelder eher in Wirtschaftsförderungsprogramme als in den sozialen Bereich.

Um Interessenkonflikte, auch diese spe­zeillen, lösen zu können, müssen nach Rawls allgemeine Prinzipien gefunden werden, die gegenseitige Ansprüche un­tereinander regeln bzw. sichern.

Damit Prinzipien unabhängig von par­tikularen Interessen und zum Wohle

166

aller gefunden werden können, müssen

für ihre Aufstellung einige Bedingungen

gestellt werden.

Die Prinzipien selbst müssen formal fünf

Bedingungen genügen:

ihrer Form nach allgemein sein, d.h. keine individuellen Unterschiede be­rücksichtigen;

universell angewendet werden, d.h. für alle gelten;

öffentlich bekannt sein, d.h. die Prin­zipien sowie ihre Legitimation müssen allen offengelegt sein;

konkurrierende Ansprüche regeln;

endgültig sein, d.h. innerhalb des praktischen Diskurses die Bedeutung einer letzten Berufungsinstanz ein­nehmen(vgl. Rawls 1975, 152 ff.).

Diese Bedingungen sind aufgrund von

rationalen Erwägungen gesetzt. Sie sind

geradezu nötig, um allgemeinverbindli­che Gerechtigkeitsprinzipien zu finden

(Beckley 1978, 251). Sie können aber

bei wohlüberlegter Kritik(vgl. reflekti­

ves Gleichgewicht) hinterfragt und ge­gebenenfalls abgeändert werden.

Der Schleier des Nichtwissens: Die Perspektive behindert zu sein

Für die spielerische Ursituation wird eine weitere Bedingung eingeführt: der Schleier des Nichtwissens. Dieser Schlei­er bewirkt, daß die Vertragsteilnehmer sich nicht ihres Status, ihrer körperli­chen und geistigen Fähigkeiten bewußt sind und somitmoralisch relevante Entscheidungen ohne persönliche und subjektive Voreingenommenheit, also unparteiisch und gerecht gefällt werden (Patzig 1983, 354). Wie Höffe in seinem Buch über John Rawls Gerechtigkeits­theorie schreibt, ist diese Wahlsituation von einem solchen Unwissen bestimmt, daß die Vertragspartner nicht wissen, ob sie als König oder als Bettler, ob als Picasso, Einstein oder als geistig Behin­derter leben werden(Höffe, 1977, 25). Als Perspektive können auch schwerste geistige Behinderung, psychische Erkran­kung etc. nicht ausgeschlossen werden.

Die Vertragspartner wissen zwar nicht um ihre individuellen Fähigkeiten und

HEILPÄDAGOGISCHIE FORSCHUNG

Schwächen, doch steht ihnen das Wis­sen bezüglich allgemeiner Gesetzesmäßig­keiten der Psychologie, Wirtschaftswis­senschaften, Politikwissenschaften zur Verfügung. So ist. z.B. die Zukunftsper­spektive, einen äußerst geringen oder überdurchschnittlichen Intelligenzquo­tienten zu besitzen, durchaus real und kalkulierbar, wie man um die Verteilung der Intelligenz nach der Gaußschen Nor­malverteilungskurve weiß.

Insofern muß jeder Vertragspartner auch für sich selbst solche extremen Zukunfts­perspektiven in Betracht ziehen, da ja die Verteilung der körperlichen und gei­stigen Fähigkeiten dem spielerischen Zu­fall und nicht einem möglichen Verschul­den zuzuschreiben sein soll(Rasmussen 1974, 303).

Mit dieser zwar unbestimmten, aber durchaus realen Zukunftsperspektive ausgestattet, müssen die zur Diskussion stehenden Prinzipien daraufhin unter­sucht werden, ob sie jedem Mitglied der Gesellschaft hier auch einen Platz garan­tieren. Dies ist unabhängig davon, in wel­cher Zeit, also in welcher Generation, in welche geistigen, sozialen und wirt­schaftlichen Umstände die jeweiligen Vertragspartner hineingeboren werden. Insofern müssen sie unter der Prämisse ihrer Generation auch die Position eines noch Ungeborenen in ihre Überlegun­gen einreihen, indem sie z.B. beachten, daß die Perspektive eines Ungeborenen (als Vorfahre einer noch zukünftigeren Gesellschaft) in einer Gesellschaft, in der Überbevölkerung herrscht, schlech­ter aussieht, als in einer solchen, die vom Aussterben bedroht ist.

Da alle Zukunftsperspektiven zunächst einmal offenstehen, werden die Vertrags­partner nur solchen Prinzipien zustim­men, die ihnen auch in der ungünstig­sten Position noch ein humanes Leben garantieren werden. Dies bedeutet,daß die.. Grundsätze diejenigen sind, die jemand als Plan für eine Gesellschaft wäh­len würde, in der ihm sein Feind einen Platz zuweisen kann(Rawls 1975, 178). In einem Versuch, der die Rawlssche Situation nachzustellen versuchte(Thi­baut, Walker, LaTour 1974, 1288 ff.), wählten die Versuchspersonen unter fünf Alternativen diejenige aus, die die am

Band XV, Heft 3, 1989